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Feedbackkultur: Die unentbehrlichen Seismografen

Feedback-Kulturen sind wichtig. Sie zeigen an, wie etwas ankommt. Im besten Fall entfaltet ein Feedback eine seismografische Funktion. Seismografen, so der Ombudsmann Roger Blum, sind unentbehrlich zur Verhinderung von physikalischen, aber auch von sozialen und politischen Erdbeben.

Ein Seismograf ist ein Gerät, das Erderschütterungen misst. Es dient der Erdbebenvorwarnung. Seismografische Funktionen haben aber auch die Journalistinnen und Journalisten, die die Bevölkerung beobachten und dabei merken (sollten), was die Menschen beschäftigt und ob sich eine Empörungswelle anbahnt. Und seismografisch wirken auch alle Feedback-Kulturen: Sie machen deutlich, wo mitunter etwas nicht stimmt.

Das Publikum reagiert beispielsweise wie folgt auf Radio- und Fernsehsendungen: Es kommentiert die Beiträge online. Es meldet sich – auf welchem Weg auch immer – direkt bei den verantwortlichen Redaktionen oder beim Kundendienst. Oder es wendet sich mit Beanstandungen an die Ombudsstelle. Wenn sich Beanstandungen zur gleichen Sendung häufen oder wenn immer wieder das gleiche Thema die Leute ärgert, dann hat dies ebenfalls seismografische Bedeutung. Wenn beispielsweise wiederholt vorgebracht wird, die Journalistinnen und Journalisten von SRF würden einseitig aus linker Optik berichten, sie hätten Vorurteile gegenüber Trump, Salvini, den Brexit-Anhängern und allen Rechtspopulisten, dann muss man sich ernsthaft fragen, ob da was dran ist und was es allenfalls zu korrigieren gilt. Das reklamierende Publikum ist natürlich nur ein kleiner Teil des Gesamtpublikums. Gleichwohl ist es wichtig, seine Anliegen und seine Sicht ernst zu nehmen. Es wirkt als Seismograf bestimmter Stimmungen und Strömungen im Publikum.

«Wenn sich Beanstandungen zur gleichen Sendung häufen oder wenn immer wieder das gleiche Thema die Leute ärgert, dann hat dies ebenfalls seismografische Bedeutung.»

Auch die Schlussberichte der Ombudsstelle haben Feedback-Charakter. Sie reagieren auf Sendungen und redaktionelle Online-Texte, indem sie die Kritik aus dem Publikum den ausgestrahlten Beiträgen gegenüberstellen. Sie geben den Redaktionen ein Feedback: Ihr seid auf dem richtigen Weg – oder: Ihr solltet mal über dieses oder jenes nachdenken – oder: Ihr habt grobe Fehler gemacht. Die Schlussberichte können Feststellungen, Mahnungen oder Empfehlungen enthalten. Sie sind ebenfalls Seismografen, weil sie den Redaktionen anzeigen, wo der Kurs korrigiert werden sollte. Dieses Feedback den Redaktionen gegenüber wird noch verfeinert durch direkte Kontakte. So treffe ich mich jedes Jahr einmal mit der Chefredaktion des Fernsehens SRF und den Redaktionsleitern der Informa­tionsabteilung und ebenso jedes Jahr einmal mit den entsprechenden Personen von Radio SRF. Ferner traf ich mich schon mit den Verantwortlichen der Kultur in Basel, mit der Satireredaktion des Radios oder mit den Leuten der DOK-Redaktion, um Fälle genauer zu erörtern. In solchen Gesprächen können Kritikpunkte noch vertieft, aber auch Missverständnisse geklärt werden.

Das Beanstandungs- und Beschwerdeverfahren im Schweizer Medienbereich sorgt für eine geordnete Feedback-Kultur, weil es ritualisiert ist. Die ­Beanstander und Beschwerdeführer können gegenüber den Ombudsstellen, der Unabhängigen Beschwerdeinstanz für Radio und Fernsehen (UBI) und gegenüber dem Presserat zwar schriftlich schimpfen, aber nicht mündlich lamentieren. Die angerufenen Stellen prüfen die Vorwürfe vor dem Hintergrund der Regeln (wie dem Radio- und Fernsehgesetz oder dem berufsethischen Kodex der Journalistinnen und Journalisten) und diskutieren dies mündlich (UBI, Presserat) oder erläutern die Erwägungen schriftlich (Ombudsstellen, UBI, Presserat). Durch dieses Verfahren wird emotionaler Dampf rausgenommen; beleidigende Anwürfe und gereizte Reaktionen verlieren an Gewicht.

«Das Beanstandungs- und Beschwerdeverfahren im Schweizer Medienbereich sorgt für eine geordnete Feedback-Kultur, weil es ritualisiert ist. »

Anders präsentiert sich die Feedback-Kultur im Online-Bereich: Artikel von SRF News provozieren oft eine ganze Menge an Kommentaren, deren Autorinnen und Autoren sich gegenseitig angreifen, ja beschimpfen. Hier zeigt sich, dass eine moderierende Kraft fehlt. Die Medienprofessorin Marlis Prinzing (Hochschule Macromedia Köln) hat sich im Buchaufsatz «Digitaler Stammtisch versus Diskursethik?» einlässlich mit dieser Problematik befasst. Sie schlägt unter anderem vor, dass einzelne Publikumsbeiträge herausgehoben werden könnten, um den Diskurs zu steuern, und dass die Redaktion selber mit kurzen eigenen Beiträgen korrigierend eingreifen könnte. So schreibt sie: «Qualitätsfördernd wirken ‹Incentives› wie z. B. die ‹New York Times Picks›: Die Redaktion der New York Times steuert den Diskurs, indem sie als Picks Leser-Kommentare exponiert, die sie für lesenswert hält, die nachdenklich machen, Expertise spiegeln – und fördert so zudem ‹gut gemachte› Kommentare. Weitere Privilegien, über die letztlich Diskursqualität gesteigert wird, sind Icons, die sogenannte ‹trusted commenters› markieren, welche ohne professionellen Moderator posten dürfen. Sie müssen Klarname, Profilfoto und Heimatstadt via Facebook-Konto oder andere Verifizierung angeben. Eine Studie zu Nachrichtenseiten belegt, wie förderlich es ist, wenn sich ein Redaktionsmitglied im Gesprächsverlauf zu einer Geschichte aktiv einbringt, Fragen beantwortet und stellt, Material ergänzt: Die Gesprächsbereitschaft steigt, die Zahl der unflätigen Kommentare hingegen sinkt.»

«Die Redaktion der New York Times steuert den Diskurs, indem sie als Picks Leser-Kommentare exponiert, die sie für lesenswert hält, die nachdenklich machen, Expertise spiegeln – und fördert so zudem ‹gut gemachte› Kommentare.» - Marlis Prinzing, Medienprofessorin

Und im Fazit hebt Marlis Prinzing hervor: «Moderatoren in Online-Redaktionen steuern und führen einen werteorientierten Dialog mit dem und im Publikum. Das würde zum Beispiel bedeuten, auch redaktionelle Diskussionsbeiträge zu liefern, etwa wenn im Diskurs Fakten fehlen, könnte aber auch Incentives meinen, wie sie etwa die ‹New York Times› anbietet. Empfehlenswert wäre, die Redaktionen überlegten sich eine Art Diskursleitfaden, um wirklich systematisch vorzugehen.»

Die Moderatoren-Rolle setzt natürlich voraus, dass ein Redaktionsmitglied eine Online-Debatte nicht nur danach verfolgt, ob jemand sich beleidigend äussert oder reinen Hass zum Ausdruck bringt, sondern auch, ob sie inhaltlich abdriftet. Und wenn dann redaktionell eingegriffen wird, könnte sich nochmals auf ganz andere Weise ein Seismograf bemerkbar machen, der nicht nur vor Erschütterungen warnt, sondern gleich auch den Weg der Verständigung weist.


Zur Person
Roger Blum ist seit 1. April 2016 Ombudsmann der SRG Deutschschweiz. Der ehemalige Präsident der Unabhängigen Beschwerdeinstanz für Radio und Fernsehen (UBI) und emeritierte Professor für Medienwissenschaft an der Universität Bern kümmert sich um Beschwerden von SRF-Zuschauern, -Radiohörerinnen und -Internet-Usern. Blum ist mit der im Text zitierten Medienprofessorin, Marlis Prinzing, verheiratet.


Text: Roger Blum

Bild: Illustration: Christof Eugster, Foto Blum: SRF/Oscar Alessio

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