«Tagesschau» über Aleppo beanstandet

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Mit Ihrer E-Mail vom 18. März 2017 beanstandeten Sie den Bericht aus Aleppo in der „Tagesschau“ des Fernsehens SRF vom 15. März 2017[1]. Ihre Eingabe erfüllt die formalen Anforderungen an eine Beanstandung. Somit kann ich auf sie eintreten.

A. Sie begründeten Ihre Beanstandung wie folgt:

„Hiermit lege ich Beschwerde wegen Missachtung des Sachgerechtigkeits- und Vielfaltsgebots ein.

Laut Ihrer Information, sollen sich friedlich angefangene Demonstrationen gegen Assad von Damaskus langsam aufs ganze Land ausgedehnt haben und anschliessend in einen Bürgerkrieg gemündet seien. Sie unterlassen darauf hinzuweisen, dass die gewaltsamen und anschliessend in einen Krieg (nicht Bürgerkrieg!) führenden Ausschreitungen von ausländischen Parteien, hauptsächlich USA und Saudi Arabien, organisiert, finanziert und mit deren Söldnertruppen durchgeführt wurden.

In der Vergangenheit wurde ausführlich über das Kriegsgeschehen in Aleppo berichtet und auf die abscheulichen Machenschaften von Assad und den Russen hingewiesen. Dass aber seit Monaten mindestens so abscheuliche Verbrechen tagtäglich in Jemen und in Mossul durch westliche Kriegsparteien stattfinden, wird verschwiegen. Das lässt sich nur durch komplette journalistische Inkompetenz oder durch bewusste Unterschlagung aufgrund USA-freundlicher/-höriger Berichterstattung erklären. Um ein Versehen kann es sich dabei nicht handeln, denn die Informationen zu diesen anhaltenden, durch den Westen verursachten Verbrechen sind im Netz/alternativen Medien zu Hauf auffindbar und frei verfügbar. Sie werden demnach von der Tageschau absichtlich ignoriert.

Hiermit fordere ich Sie auf, diesen Missstand von selektiver Berichterstattung von Kriegsverbrechen zu beheben und diese, von welcher Seite auch immer, klar und deutlich zu benennen und von dieser amerikafreundlichen Haltung Abstand zu nehmen.“

B. Die zuständige Redaktion erhielt Ihre Beanstandung zur Stellungnahme. Für die „Tagesschau“-Redaktion antwortete Herr Franz Lustenberger:

„Mit Mail vom 18. März beanstandet Herr X den Beitrag über die Situation in Aleppo, wegen Missachtung des Sachgerechtigkeits- und Vielfaltgebotes.

Schwerpunkt Syrien

Die Tagesschau hat in der Hauptausgabe vom 15. März einen Schwerpunkt zu Syrien gemacht. Sie hat die Reportage aus Aleppo von Nahost-Korrespondent Pascal Weber ergänzt mit einem zweiten Beitrag zur politischen und militärischen Situation im Lande, mit Einschätzungen des ETH-Sicherheitsexperten Roland Popp. Auch die Rundschau widmete sich an diesem Abend dem Thema „Humanitäre Arbeit“ in einem langen Gespräch mit IKRK-Präsident Peter Maurer.

Die Reportage aus Aleppo und der redaktionelle Hintergrund-Beitrag ergänzen sich bestens: Die Reportage von Pascal Weber zeigt eindrücklich, wie gross die humanitären Probleme der Menschen in Aleppo sind, wie sich das Rote Kreuz um die Linderung der Not (Essensausgabe, Wasser) intensiv bemüht, und wie die Menschen langsam wieder in ihrer vom Krieg zerstörten Stadt Fuss fassen.

In der Übergangsmoderation zum zweiten Beitrag wird der schwierige Weg zu einem Frieden kurz angesprochen. Im Beitrag selber wird aufgezeigt, welche Gruppen (Regierung, Rebellen, Kurden und IS) welche Teile des Landes beherrschen; Roland Popp erläutert zudem die gestärkte Stellung von Präsident Assad nach sieben Jahren Krieg.

Die Tagesschau macht einen klaren Schwerpunkt, nah bei den Menschen in Aleppo und hintergründig in der Analyse.

Bürgerkrieg

Angefangen hat der Bürgerkrieg in Syrien im März 2011 mit Protesten in der Stadt Daraa und anderen Städten. Die Menschen verlangten mehr Freiheit und ein Ende der Korruption. Die Polizei und das Militär reagierten auf die Proteste mit Gewalt.[2]

Es sind die gleichen Forderungen, wie sie in anderen Ländern während des Arabischen Frühlings in Tunesien und Ägypten laut wurden. Es sind Forderungen von jungen Menschen und aus der städtischen Bevölkerung (gewerblicher Mittelstand, Intellektuelle, und andere), welche nicht weiter unter einem autokratischen Regime leben wollten.

Tatsache ist, dass alsbald Milizen aus den umliegenden Ländern, regionale Mächte und auch die Grossmächte auf dem Schlachtfeld des syrischen Bürgerkrieges mitmischten. Die Hisbollah-Milizen, iranische Revolutionswächter und Russland auf der Seite Assads – die Staaten am Golf und Saudi-Arabien an der Seite der sehr zersplitterten syrischen Opposition, die sich teilweise zunehmend radikalisierte – die Westmächte, welchen es primär um die Eindämmung der Terrororganisation IS ging – und schliesslich die Türkei, welche vor allem die Bildung eines Kurdenstaates in Syrien und Irak verhindern will.

Aus dem ursprünglichen Bürgerkrieg ist ein Ringen um Macht und Einfluss in Syrien und der Region geworden. Das grosse Opfer erbringt die syrische Bevölkerung – Millionen sind im Land selber entwurzelt, Millionen sind vor allem in die Nachbarländer und auch nach Europa geflohen.

Exkurs zur Programmautonomie und zum Staatsverständnis

Artikel 93 der Bundesverfassung hält in Absatz 3 die ‚Autonomie in der Programmgestaltung‘ fest. In Artikel 6 des Bundesgesetzes für Radio und Fernsehen RTVG wird diese Programmautonomie verdeutlicht. Die Programmverantwortlichen <sind in der Gestaltung, namentlich der Wahl der Themen, der inhaltlichen Bearbeitung und der Darstellung ihrer Programme, frei und tragen dafür die Verantwortung.> Und weiter: <Niemand kann von einem Programmveranstalter die Verbreitung bestimmter Darbietungen und Informationen verlangen.>

Die Redaktion Tagesschau nimmt diese Verantwortung täglich wahr. Sie hat sich am 15. März entschieden, eine aktuelle Reportage aus Aleppo mit einem Hintergrund zur gegenwärtigen militärischen und politischen Situation zu ergänzen. Sie hat sich entschieden, die ‚Schuldfrage‘ des Krieges in Syrien nicht zu thematisieren. Das würde den Rahmen eines Tagesschau-Beitrages so oder so sprengen. Sollte es jemals zu einer richterlichen Aufarbeitung des Krieges in Syrien kommen, etwa vor einem internationalen Gerichtshof, dürften allein die Akten tausende von Seiten umfassen. Die Schuldfrage ist auch nicht so einfach zu beantworten, wie dies Herr X in seiner Beanstandung suggeriert.

In unserem Staatsverständnis ist es die primäre Aufgabe eines Staates und seiner Organe, die Freiheit der Bürger zu wahren, ihre Rechte zu stärken, die Wohlfahrt aller zu fördern, den inneren Zusammenhalt des Landes zu stärken (siehe Artikel 2 der Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft; ähnliche Formulierungen finden sich in allen Grundgesetzen demokratischer Staaten). Das Staatsverständnis von Präsident Assad ist offenbar ein anderes; er setzt den eigenen Machterhalt in den Vordergrund.

Irak und Jemen

Die Tagesschau (und auch 10vor10) haben in den letzten Monaten mehrmals auch über den Krieg um die Stadt Mossul im Irak und den Konflikt in Jemen berichtet. Nahost-Korrespondent Pascal Weber hat sich vor seiner Reise nach Syrien im März mehrere Tage Ende Februar/anfangs März in Mossul aufgehalten. Reporter und Korrespondenten von SRF reisen aus Sicherheitsgründen nicht in den Jemen. Dies belegen die in der Fussnote angeführten Links auf Beiträge in den letzten zwei Monaten.[3]

Die Tagesschau berichtet gemäss ihrem Auftrag über gesicherte Fakten und liefert Einordnungen zum Verständnis des Geschehens, ohne vorschnell in ‚gut‘ und ‚böse‘ zu unterteilen.

Fazit

Die Tagesschau hat am 15. März sachgerecht über den Krieg in Syrien berichtet – mit einer berührenden Reportage unseres Korrespondenten aus Aleppo sowie einem Hintergrund zur aktuellen militärischen und politischen Lage in Syrien.

Die Tagesschau blendet keine kriegerischen Konflikte aus, sie berichtet unvoreingenommen mit Fakten und nachvollziehbaren Einschätzungen durch Korrespondenten und Experten.

Den Vorwurf der ‚kompletten journalistischen Inkompetenz‘ weist die Tagesschau in aller Form zurück.

Ich bitte Sie, die Beanstandung von Herrn X in diesem Sinne zu beantworten.“

C. Damit komme ich zu meiner eigenen Bewertung der Sendung. Sie erheben gegenüber der „Tagesschau“ im Grunde zwei Vorwürfe:

  1. Sie habe falsch über den Beginn der syrischen Revolte berichtet, denn die Ausschreitungen seien durch ausländische Mächte, hauptsächlich die USA und Saudi-Arabien, organisiert, finanziert und über Söldner gesteuert worden.
  2. Sie ignoriere, weil sie US-hörig berichte, dass neben den Verbrechen der Russen und der syrischen Regierung ebenbürtige Verbrechen durch westliche Kriegsparteien begangen worden seien.

Damit machen Sie ein großes Fass auf, denn der zweite Vorwurf geht weit über den hier beanstandeten „Tagesschau“-Beitrag hinaus und hat mit der Sendung des 15. März 2017 nichts zu tun. Der erste hingegen schon: Sie bestreiten die Anmoderation des Beitrags durch Moderatorin Katja Stauber. Aber Sie bestreiten nicht den winzigen, nebensächlichen Fehler, den sie begeht, indem sie den Anfang der Revolte von der südsyrischen Provinzhauptstadt Deraa nach Damaskus verlegt, sondern Sie bestreiten die Urheberschaft der Revolte: Nicht die einheimische Bevölkerung habe die Proteste ausgelöst, sondern ausländische Provokateure. Sie folgen damit der These des Australiers Tim Anderson in seinem Buch „Der schmutzige Krieg gegen Syrien“[4]. Der Politökonom Anderson sagt, bewaffnete Provokateure aus Saudi-Arabien hätten gezielt syrische Sicherheitskräfte erschossen und so die Reaktion der Regierungskräfte provoziert. Der deutsche Historiker und Orientalist Daniel Gerlach hält dem in seinem Buch „Herrschaft über Syrien“[5] eine ganz andere Darstellung entgegen, wonach am Anfang ein paar jugendliche Sprayer standen, die von der Polizei verhaftet wurden, was Protestzüge hervorrief. Diese wiederum veranlassten die verunsicherten Sicherheitskräfte, in die Menge zu schiessen, so dass jedes Mal Tote zu beklagen waren. Zu jedem Trauerzug für die Toten kamen mehr Menschen; die Demonstrationszüge wurden immer größer. Dies erinnerte an die Protestzüge gegen den Schah in Iran vor der islamischen Revolution von 1979, die sich auch von Totenklage zu Totenklage im Umfang steigerten.

Wer hat Recht? Es ist schwierig zu entscheiden. In Syrien recherchiert haben beide Buchautoren. Tim Anderson hat allerdings nur mit Vertretern der Regierung gesprochen, auch mit Präsident Baschar al-Assad, Gerlach aber mit Vertretern aller Ethnien, Religionen und Denkrichtungen. Wenn im Beitrag gesagt wurde, dass am Anfang des Bürgerkriegs Demonstrationen standen, so ist das korrekt. Falsch war nur die Stadt des Beginns, aber das ist ein lässlicher Fehler in einem Nebenpunkt. Der Beitrag von Pascal Weber hingegen zeigte vor allem, wie im nun wieder von den syrischen Regierungstruppen kontrollierten Ost-Aleppo Nahrungsmittel, Strom und fliessendes Wasser fehlen und wie das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) die notwendigste Hilfe leistet. Die anschliessende Analyse von Jürg Brunner gab keinerlei Hinweis auf US-hörige Denkweise und auf eine einseitige Schuldzuweisung an die Adressen von Russland, Iran und Syriens Regierung, sondern sie bilanzierte nüchtern das Resultat von sechs Jahren Bürgerkrieg. Herr Lustenberger hat in der Redaktions-Stellungnahme zudem darauf hingewiesen, dass SRF über die von Ihnen vermissten Konfliktherde in Mossul und in Jemen durchaus berichtet hat.

Was also bleibt? Es gibt in der Tat Unsicherheit darüber, was wahr ist. In jedem Krieg stirbt die Wahrheit zuerst. Alle Informationen, die wir von beteiligten Kriegsparteien erhalten, sind zunächst Propaganda. Journalistinnen und Journalisten können nur mit Mühe und unter höchster Gefahr einen Augenschein vornehmen, es sei denn „embedded“. Wir wissen also nicht, was die Historiker dereinst über die wirklichen Abläufe, über Lügen und Täuschungen, über die wahren Verbrechen und die wahren Opfer herausfinden. Ich habe aber den Eindruck, dass sich Radio und Fernsehen SRF redlich bemühen, nur jene Quellen zu zitieren, die sich als genügend zuverlässig herausgestellt haben, und dann, wenn Unsicherheit über die Quellenlage besteht, dies auch zu sagen. Was die konkrete Sendung betrifft, kann ich jedenfalls keine Verletzung der Sachgerechtigkeit erkennen. Ich kann daher Ihre Beanstandung nicht unterstützen.

D. Diese Stellungnahme ist mein Schlussbericht gemäß Art. 93 Abs. 3 des Radio- und Fernsehgesetzes. Über die Möglichkeit einer Beschwerde an die Unabhängige Beschwerdeinstanz für Radio- und Fernsehen (UBI) orientiert die beigelegte Rechtsbelehrung. Für Nachfragen stehe ich gerne zur Verfügung.

[1] http://www.srf.ch/play/tv/tagesschau/video/tagesschau-vom-15-03-2017-1930?id=774fa84c-e1e4-445d-aaae-a78a7ca0a10b

[2] Vgl. Beilagen „Syrien Jemen Chronik“ und „Syrien Beginn der Revolte“

[3] Reportage von Pascal Weber aus Mossul (13.02.2017):http://www.srf.ch/play/tv/tagesschau/video/reportage-aus-mossul?id=531c3248-84c0-4e62-aecd-bfff2019492b; Schlacht um Mossul(20.02.2017) :

http://www.srf.ch/play/tv/tagesschau/video/offensive-auf-mossul?id=7b5a082c-4980-46a9-92da-b9ed045bb53c; Flucht aus Mossul (26.02.2017): http://www.srf.ch/play/tv/tagesschau-spaetausgabe-wochenende/video/tagesschau-vom-26-02-2017-2200?id=597e46cb-e7b0-41b5-a8b6-0615a96977cc; Kampf um Mossul (27.03.2017): http://www.srf.ch/play/tv/tagesschau/video/kampf-um-mossul?id=c9c07a68-12ae-423e-b2b7-914f4410e1c4; Hungersnot wegen Dürre in Ostafrika und Krieg im Jemen (11.03.2017): http://www.srf.ch/play/tv/tagesschau/video/tagesschau-vom-11-03-2017-1930?id=a275fd66-34e1-411b-9e32-5ca13e9ba1d3; Amnesty Report zu US-Drohneneinsätzen im Jemen: http://www.srf.ch/play/tv/tagesschau/video/amnesty-international-duestere-zeiten?id=64b87c77-b941-459a-b840-6c41e45650a5

[4] Tim Anderson (2016): Der schmutzige Krieg gegen Syrien. Washington, Regime Change und Widerstand. Marburg: Liepsen Verlag, v.a. S. 43-59.

[5] Daniel Gerlach (2015): Herrschaft über Syrien. Macht und Manipulation unter Assad. Hamburg: edition Körber-Stiftung, S. 17-39.

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