Datenjournalismus
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Wenn Daten Geschichten erzählen

Der Datenjournalist, das unbekannte Wesen. Er bildet sich gerade als eigene Berufsgattung heraus. Auch SRF hat nun ein Daten-Team: SRF Data. LINK hat die drei Datenjournalisten gefragt, was denn an Daten so ­spannend sein soll.

– Von Oliver Fuchs

Das Problem mit Neuigkeiten ist, wie schnell sie genau das nicht mehr sind – neu. Das gilt nicht nur für die Nachrichten selber, sondern auch für die Menschen, die diese in die Welt hinausgerufen haben. Wir vergessen nicht nur, was in der sprichwörtlichen Zeitung von gestern steht, sondern auch, wer die Zeitung geschrieben hat. Journalisten überleben sich – anders als die Menschen, die dicke Bücher schreiben – nur selten selbst. Wenige Journalisten werden zu Ikonen, wie die Watergate-Aufdecker Woodward und Bernstein, die noch zu ihren Lebzeiten auf der Kinoleinwand von Robert Redford und Dustin Hoffman verkörpert wurden.

Florence Nightingales Leben wurde nie verfilmt. Dabei ist es eines dieser Leben, welches geradezu nach Kino schreit. Die Britin pflegte verwundete Soldaten im Krimkrieg in den 1850er-Jahren, gilt als Mitbegründerin der modernen Krankenpflege und – so sehen es zumindest viele ihrer Nachfolgerinnen – erfand den Datenjournalismus mit. Über einen Umweg.

Sie kam mit der festen Überzeugung aus dem Krieg zurück, dass viele der Soldaten, die ihr unter den Händen weggestorben waren, mit einer vernünftigen medizinischen Versorgung überlebt hätten. Also wurde Nightingale zur Vorkämpferin für ein besseres Gesundheitswesen in der britischen Armee. Anstelle von drastischen Schilderungen versuchte Nightingale ihre Landsleute mit anderen Mitteln auf ihre ­Seite zu ziehen: Zahlen. Tabellen. Grafiken. Fakten. Pragmatismus anstelle von Moral. Das Herzstück ihres Reports an das britische Parlament bestand aus Statistiken und ausgefeilten Diagrammen, eine akribische Auflistung aller Kriegstoten. Es stellte sich heraus: Ein Grossteil starb nicht auf dem Schlachtfeld, sondern im Lazarett. An banalen und vermeidbaren Krankheiten, an Infekten, Wundfieber und dergleichen. Genau das macht den Datenjournalismus aus: Die Zahlen, die Daten, sie sprechen für sich. Sie sind die Geschichte. Doch um sie zum ­Sprechen zu bringen, wollen sie erst aus­gegraben, organisiert, verstanden werden.

Immer mehr Daten sind öffentlich

Am Ende von Julian Schmidlis erster Recherche für SRF Data, dem neu gegründeten Datenjournalisten-Team von SRF, steht so eine Zahl: 220 Millionen. So viele Franken hat der Bund letztes Jahr für IT-Projekte im sogenannten freihändigen Verfahren ­vergeben. Also Aufträge direkt an eine Firma erteilt, ohne sie öffentlich auszuschreiben. Das bedeutet: kein Bieterstreit, damit auch kein Preisdruck – im schlimmsten Fall aber Vetternwirtschaft und Intransparenz. 220 Millionen.

Um zu der Zahl zu kommen, hat Schmidli, zusammen mit einer Kollegin von «10vor10», Tausende von Beschaffungs­aufträgen analysiert. Dafür sog er sich gros­se Datenmengen von einer Internetdatenbank des Bundes herunter. Dass immer mehr Daten öffentlich zugänglich sind, ist ein Trend aus den USA, der nach Europa überschwappt, und Datenjournalisten auch hierzulande üppig Stoff liefert. An solche Datensätze zu gelangen, ist Schmidlis ­Spezialgebiet: «Ich bin gewissermassen die Spürnase im Team.»

«Uns begegnet oft das Vorurteil, dass Datenjournalismus auf Datenvisualisierung – also auf hübsche Grafiken reduziert wird. Das ist aber erst das Ende der Geschichte, wenn überhaupt» (Schmidli, hinten links). Bilder: SRF / Oscar Alessio

Timo Grossenbacher, das zweite Teammitglied, hat Geografie und Informatik studiert: «Meine Lieblingsthemen haben einen räumlichem Bezug: Raumplanung, Umwelt, Mobilität und so weiter.» Ein Geograf als Journalist? Nicht ungewöhnlich, sagt er. «Wir Geografen müssen uns oft eine Nische suchen, es sucht selten jemand explizit nach uns.» Die nächste Recherche, so viel sei verraten, fällt in seine Warte. Und dann der erste grosse Brocken – der Schwerpunkt des Jahres: die eidgenössischen Wahlen.

Zudem kann Grossenbacher programmieren, ein enormer Vorteil. Denn je grösser die Datensätze, desto wichtiger wird es, deren Analyse zu automatisieren – dem Computer zu zeigen, was er zu tun hat, und ihm dann die Fleissarbeit zu überlassen. Der Quantensprung in Computerrechenkraft und die Verbreitung von frei verfügbaren Analyseprogrammen, sind zwei weitere Trends, die den Datenjournalismus in den letzten Jahren haben aufblühen lassen. Sie, und die weltweite Vernetzung von Menschen über das Internet, die sich für Datenanalyse interessieren: Hacker, Forscher, ­Aktivisten, Journalisten.

Sparringpartner der Wissenschaft

Sylke Gruhnwald, dritte im Team, leitet SRF Data. Zuvor hat sie bei der NZZ ein ähnliches Team aufgebaut. An ihr ist es, die Geschichten von SRF Data auf den Sender zu bringen. Kanalgerecht aufbereitet, für Radio, Fernsehen und online. «Nicht zu unterschätzen bei der Grösse dieses Hauses», sagt sie. Ohne die enge Zusammenarbeit mit den anderen Redaktionen, ergänzt Schmidli, könnte SRF Data gar nicht funktionieren: «Wir schliessen uns nicht irgendwo mit irgendwelchen Daten ein und kommen dann mit dem fertigen Produkt wieder raus. Im Gegenteil: Wir sind sehr offen angelegt und versuchen auch, das enorme Wissen in diesem Haus anzuzapfen.»

Wir schliessen uns nicht irgendwo mit irgendwelchen Daten ein und kommen dann mit dem fertigen Produkt wieder raus. Im Gegenteil: Wir sind sehr offen angelegt und versuchen auch, das enorme Wissen in diesem Haus anzuzapfen. (Julian Schmidli)

Zudem, sagt Gruhnwald, sei SRF zuvor keineswegs datenjournalistisches Niemandsland gewesen: «Gerade die Kollegen aus der Wissenschaft sind ja auf Studien geeicht. Was wir bieten wollen, ist eine Sparringpartnerschaft, im Sinne von: ‹Du, ich hab da eine Studie, was könnten da die Fallstricke sein?› – und natürlich eine gewisse technische
Expertise.»

«Fakten sind heilig»

Die drei sind sich einig darüber, was der Datenjournalismus leisten kann, was er ist und was nicht. «Uns begegnet oft das Vorurteil, dass Datenjournalismus auf Datenvisualisierung – also auf hübsche Grafiken reduziert wird. Das ist aber erst das Ende der Geschichte, wenn überhaupt», sagt ­Schmidli. Die Arbeit der Datenjournalisten unterscheide sich oft nicht von der eines klassischen Reporters, sagt Gruhnwald: «Wir telefonieren viel, gehen raus. Wir reden mit den Leuten, die die Daten gesammelt haben – zum Beispiel beim Bundesamt für Statistik. Oder aber wir klagen auf die Herausgabe von Daten, die der Öffentlichkeit vorenthalten werden.»

Datenjournalisten, ist Schmidli überzeugt, können der Gesellschaft einiges bieten: «So vieles wird auf der Basis von Daten entschieden. Gerade deswegen stehen wir Daten und ihren Urhebern kritisch gegenüber. Wir können nachvollziehen, wie sie zustande gekommen sind.» Die Digitalisierung hat den Journalismus insgesamt subjektiver gemacht. Meinung dominiert. Jeder kann Kommentare schreiben, sie sind billig, erfordern kaum Recherche. Emotionen, Stimmungen verkaufen sich gut. Dem hält der Datenjournalismus entgegen. In den Worten des Datenblogs des «Guardian»: «Fakten sind heilig.» Den Satz hat er sich zum Wahlspruch gemacht. Der «Guardian» hat Gewicht in der Szene. Vor rund fünf Jahren hat er, zusammen mit der deutschen «Die Zeit», den Datenjournalismus ins Rollen – und bei den Redaktionen, darunter SRF, auf den Schirm gebracht. Florence Nightingale, wäre sie noch unter uns, dürfte zufrieden sein.

Oliver Fuchs

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