SRG Deutschschweiz Ombudsstelle

«Sternstunde Philosophie» über den Philosophen Peter Singer beanstandet

4011 | Mit E-Mail vom 29. Mai 2015 haben Sie die Sendung „Peter Singer – Der Weltver­besserer unter den Philosophen“ vom 24. Mai auf SRF 1 beanstandet. Den Erhalt Ihrer Eingabe habe ich mit meinem Brief vom 29. Mai bereits bestätigt.

Wie üblich, habe ich die Verantwortlichen von SRF gebeten, zu Ihren Kritiken Stel­lung zu beziehen. Dies ist erfolgt und in der Zwischenzeit habe ich die Angelegenheit analysieren können. Ich bin somit in der Lage, Ihnen heute meinen Schlussbericht zu senden.

1. Sie begründen Ihre Kritik wie folgt:

„Singer befürwortet unter anderem die Ermordung von behinderten Säuglingen und intellektuell behinderten Erwachsenen / Demenzkranken und fordert, dass diese vom Bezug staatlicher Leistungen ausgeschlossen werden. Diese Positionen kommen auch in der beanstandeten Sendung zur Sprache.

Unserer Auffassung nach ist es unangebracht, eine solche Person als ‚Weltver­besserer‘ zu betiteln. Die verfassungs- und menschenrechtswidrigen Thesen des Herrn Singer werden dadurch als positiv dargestellt. Die Redaktion erweckt den Ein­druck, dass sie diesen Thesen zustimmt. Sie trägt damit dazu bei, dass sie salon­fähig gemacht werden.

Im ersten Teil der Sendung wird Herrn Singer zudem eine Plattform geboten, um das Lebensrecht von Menschen mit Behinderung in Frage zu stellen. Eine Sendung, in der beispielsweise die Tötung von Juden oder Homosexuellen gefordert werden wür­de, wäre in dieser Form absolut undenkbar. Aus demselben Grund sollte, auch im Hinblick auf Artikel 4 Ziffer 1 RTVG, auch das Lebensrecht von Menschen mit Behin­derung in einer öffentlich-rechtlichen Fernsehsendung nicht in Frage gestellt werden dürfen.

Die Redaktion hätte Herrn Singer zumindest einen würdigen Vertreter der Gegen­seite gegenüber setzen können, welcher ihm hätte Paroli bieten können. Zudem hätte die Moderatorin verhindern sollen, dass der Gast verfassungswidriges Terrain betritt. Das Interview wurde aber alles in allem recht gefällig geführt. Kritische Rück­fragen gab es kaum, nur hie und da recht zurückhaltende Bemerkungen darüber, dass diese Thesen kontrovers seien oder dass Menschen mit Behinderung sich dadurch diskriminiert fühlen könnten. So erhielt Herr Singer eine mit Billag-Gebühren finanzierte Wohlfühl-Plattform, um praktisch widerspruchsfrei einen Monolog über sein abscheuliches Weltbild halten zu können.“

2. Wie bereits erwähnt, haben die Verantwortlichen von SRF zu Ihren Kritiken Stellung bezogen. Frau Dr. Judith Hardegger, Redaktionsleiterin „Sternstunden“, schreibt da­bei Folgendes:

„In Ihrem Brief vom 29. Mai 2015 informieren Sie uns über die Beanstandung von Herrn X zur Sendung ‚Sternstunde Philosophie‘ vom 24. Mai. In dieser Sendung diskutierte Moderatorin Barbara Bleisch mit dem australischen Philosophen Peter Singer.

Gerne teile ich Ihnen hiermit meine Stellungnahme zu den einzelnen Kritikpunkten mit. In seiner Beanstandung schreibt Herr X zunächst:

‚Singer befürwortet unter anderem die Ermordung von behinderten Säuglingen und intellektuell behinderten Erwachsenen/Demenzkranken und fordert, dass diese vom Bezug staatlicher Leistungen ausgeschlossen werden. Diese Positionen kommen auch in der beanstandeten Sendung zur Sprache.‘

Tatsächlich spricht Peter Singer in der Sendung davon, wie heute Eltern in gewissen Fällen entscheiden müssen, ob sie lebensunterstützende Massnahmen für ihr stark behindertes Neugeborenes aufrecht erhalten oder einstellen wollen. Als die Modera­torin ihn darauf anspricht, dass er in seinem Buch ‚Praktische Ethik‘ dafür plädiere, Kinder, die mit der Bluterkrankheit zur Welt kommen, zu töten, antwortet Singer wört­lich: ‚Ich sage sicher nicht, wir sollten sie töten. Und er fügt hinzu, dass dies in erster Linie ein philosophisches Fallbeispiel sei, mit dem er die Menschen zum Nachdenken bewegen wolle.

Peter Singer ist der wohl pointierteste Vertreter des Präferenz-Utilitarismus. An ver­schiedenen Stellen des Gesprächs exerziert er seine utilitaristischen Argumente bis zum Äussersten durch, erläutert Implikationen und Konsequenzen.

Was das Thema aktive Sterbehilfe für Demenzkranke betrifft, so macht Singer im Ge­spräch klar, dass er dies nur befürworten würde, wenn Betroffene dies selber in einer Patientenverfügung so festgelegt hätten.

Und von einem Ausschluss Behinderter oder Demenzkranker vom Bezug staatlicher Leistungen ist im ganzen Gespräch nirgendwo die Rede.

Weiter stösst sich Herr X am Titel der Sendung ‚Peter Singer – der Weltverbes­serer unter den Philosophen‘. Gewiss, der Begriff ‚Weltverbesserer‘ hat zweifellos eine ambivalente Konnotation, kann also auch pejorativ verstanden werden. Abge­sehen davon bezieht sich der Titel auf Singers aktuelles Buch und Projekt ‚Leben retten‘, was auch den grössten Teil des Gesprächs ausgemacht hat.

Dann bemängelt Herr X, dass Peter Singer praktisch widerspruchsfrei einen Monolog über sein Weltbild habe halten können. Auch diese Kritik ist m.E. unbe­rechtigt, hat doch die Moderatorin durchwegs Gegenstimmen zu Singers Aussagen ins Feld geführt. Sie hat mehrfach und klar herausgestrichen, dass Singers utilitaris­tischen Argumente für viele Menschen inakzeptabel sind. Ebenso wies sie explizit darauf hin, dass Singers Positionen die Gefahr der Abwertung behinderten Lebens und der Diskriminierung von Menschen mit Behinderung in sich bergen.

Die ‚Sternstunde Philosophie‘ bot die Möglichkeit, einen berühmten und äusserst streitbaren Philosophen kennenzulernen. Der Austausch von Rede und Gegenrede, gerade zu kontroversen Themen, ist ein Pfeiler freier Gesellschaften. Für einen sol­chen essentiellen Diskurs hat die ‚Sternstunde Philosophie‘ den angemessenen Rahmen bereitgestellt. Das TV-Gespräch ist in einer Weise erfolgt, die es dem Zuschauer ermöglichte, sich ein eigenes Bild von Peter Singer und seinen Ansichten zu machen.

Mit anderen Worten: Das Gespräch wurde m.E. sachkundig und kritisch geführt und die Regeln journalistischer Sorgfaltspflicht eingehalten.

Somit halte ich fest, dass aus Sicht der Redaktion die Sendung das ihr zugespro­chene Mandat erfüllt hat und bitte Sie daher, die Beanstandung von Herrn X abzulehnen.“

3. Soweit die Stellungnahme der Redaktionsleiterin von „Sternstunden“. Nachdem ich die Angelegenheit analysieren konnte, scheinen mir die Argumente von Frau Dr. Ju­dith Hardegger sehr plausibel zu sein. Um Wiederholungen zu vermeiden, kann ich mich deshalb kurz halten.

Die Ausgangslage sollte unbestritten sein: der Australier Peter Singer gehört zu den bekanntesten und zugleich radikalsten lebenden Philosophen. Er bekennt sich zur Theorie des Präferenzutilitarismus, eine Variante des Utilitarismus. Für ihn bezieht sich Gleichheit nicht auf gleiche Behandlung, sondern auf gleiche Berücksichtigung der Interessen. Es gibt für ihn keine moralische Rechtfertigung für die Nicht-Berück­sichtigung von Interessen. Bereits im Jahr 1979 formulierte Singer in seinem Buch „Praktische Ethik“ seine heftig umstrittene Auffassung zu Euthanasie und Sterbehilfe für schwerbehinderte Kinder. Singer argumentiert, dass Eltern zusammen mit den zuständigen Ärzten über das Weiterleben eines Säuglings entscheiden sollten, der an einer unheilbaren Krankheit leidet und dessen Leben daher niemals auch nur minimale Befriedigung erfahren würde.

So ist es nicht überraschend, dass vor allem Menschen mit Behinderung und ihre Organisationen Peter Singer und seine These zu Abtreibungen und Infantizid gerade von Kindern mit Behinderung scharf kritisieren. Sie befürchten zudem, er werde einer Mentalität rechtliche Legitimation geben, die letztlich gesellschaftliche Einstellungen zu Menschen mit Behinderungen hervorrufen können, welche in der Vergangenheit die nationalsozialistischen Euthanasieprogramme ermöglichten. Um ihre Empörung auszudrücken, zögern Organisationen für Menschen mit Behinderung nicht, seine Auftritte an Veranstaltungen mit Protestaktionen zu begleiten.

Bei dieser Sachlage kann ich durchaus nachvollziehen, dass Sie die Sendung „Sternstunde Philosophie“ vom 24. Mai kritisieren. Sie werfen der Sendung vor, Herrn Singer eine Plattform geboten zu haben, „um das Lebensrecht von Menschen mit Be­hinderung in Frage zu stellen“. Praktisch widerspruchsfrei hätte er einen Monolog über sein abscheuliches Weltbild halten können.

Tatsächlich hatte der Philosoph Peter Singer unter dem Titel „Peter Singer – Der Weltverbesserer unter den Philosophen“ die Gelegenheit, im Gespräch mit Barbara Bleisch seine umstrittenen Thesen zu erläutern. Zirka die Hälfte des fast einstündi­gen Gesprächs war seiner Theorie des Präferenzutilitarismus in Bezug auf Men­schen mit Behinderung gewidmet. War deshalb eine derartige Sendung in einer öffentlich-rechtlichen Fernsehsendung unzulässig?

Nachdem ich die Sendung sehr genau angeschaut habe und die Angelegenheit stu­dieren konnte, gelange ich zu einer anderen Schlussfolgerung als Sie. Dies aus ver­schiedenen Überlegungen.

Zuerst einmal, weil es bei der Beantwortung dieser Kernfrage zu berücksichtigen gilt, dass sowohl Art. 93 Abs. 3 der Bundesverfassung sowie auch Art. 6 Abs. 2 RTVG die Programmautonomie von Radio und Fernsehen gewährleisten. Diese beinhaltet namentlich auch die Freiheit in der Wahl eines Themas einer Sendung oder eines Beitrags und in der inhaltlichen Bearbeitung. Es ist kein Thema denkbar, das einer Behandlung oder einer kritischen Erörterung in den elektronischen Medien entzogen ist. Ausstrahlungen haben jedoch den in Art. 4 und 5 RTVG sowie im einschlägigen internationalen Recht festgelegten inhaltlichen Grundsätzen Rechnung zu tragen.

Auch wenn ich für Ihre Sorge für Menschen mit Behinderung viel Respekt aufweise, gelange ich zur Auffassung, dass diese rechtlichen Bestimmungen nicht verletzt wurden. Zugegeben: Die Thesen von Peter Singer sind derart extrem, dass sie sogar schockierend wirken können. Entscheidend ist aber, dass diese durchaus problemati­schen und heiklen Ansichten als die umstrittene persönliche These von Herrn Singer transparent erkennbar waren. Zudem wurden die Theorien von Herrn Singer durch die Moderatorin stets hinterfragt, so dass sich das Publikum eine eigene Meinung bilden konnte. Die gesetzliche Anforderung von Art. 4 RTVG wurden deshalb nicht verletzt.

Dies umso mehr, als für Gesprächssendungen nicht die gleich hohen Anforderungen an die Sachgerechtigkeit gestellt werden können wie an rein redaktionelle aufbereite­te Informationssendungen. Dies trifft in besonderem Masse für das Sendegefäss „Sternstunde Philosophie“ zu, in welchem ein Thema in der Regel nicht kontrovers diskutiert wird, sondern sich die Gäste ausführlich und vertieft äussern können. Laut Bundesgericht sind die Medienfreiheit sowie die Programmautonomie bei entsprech­enden politisch-philosophischen Sendungen, die sich an ein besonders interessiertes Nischenpublikum richten, besonders hoch zu gewichten.

Aus dem Gesagten ergibt sich, dass ich zwar für Ihre kritische Reaktion viel Ver­ständnis habe, Ihre Beanstandung aber, soweit ich darauf eintreten konnte, nicht unterstützen kann.

4. Ich bitte Sie, das vorliegende Schreiben als meinen Schlussbericht gemäss Art. 93 Abs. 3 des Radio- und Fernsehgesetzes RTVG entgegenzunehmen. Über die Mög­lichkeit einer Beschwerde an die Unabhängige Beschwerdeinstanz für Radio und Fernsehen UBI (Monbijoustrasse 54A, Postfach 8547, 3001 Bern) orientiert Sie der beiliegende Auszug aus dem Bundesgesetz über Radio und Fernsehen.

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