Vinzenz Wyss
SRG Deutschschweiz Magazin LINK

«Der Journalismus muss transparenter werden»

Vinzenz Wyss ist ZHAW-Journalistik-Professor und beobachtete die mediale Corona-Berichterstattung. Neben Schwachstellen sieht Wyss Chancen, die der Journalismus jetzt nicht verpassen darf.

LINK: Herr Wyss, Sie schrieben in Ihrem Gastbeitrag Anfang April auf Meedia: «Die Medien mussten im Spagat zwischen zwei journalistischen ‹Polen› handeln: der ‹Verantwortungsethik› (Anfang Krise) und der ‹Pflichtethik› (später)». Können Sie das genauer erläutern?
Vinzenz Wyss: Journalistinnen und Journalisten sind – und das nicht nur in der Coronakrise – ständig mit dem Dilemma konfrontiert, dass sie sich zum einen an der sogenannten Pflichtethik auszurichten haben und zum anderen auch nicht beabsichtigte, aber mögliche Folgen beachten sollten. Pflichtethisch handeln bedeutet beispielsweise, kritische Distanz zum Gegenstand wahren, hartnäckig recherchieren, vielfältige Stimmen zulassen und auch unangenehme Fragen stellen. Auf der anderen Seite verlangt die Verantwortungsethik, eben nicht alles zu sagen; etwa dann, wenn es beispielsweise darum geht, den Persönlichkeitsschutz oder die Intimsphäre zu wahren.

Was bedeutet das in Bezug auf die Berichterstattung während der Coronakrise?
Verantwortungsethisch handeln bedeutet hier etwa, in Erwägung zu ziehen, inwiefern die Berichterstattung dazu beitragen könnte, dass Panik geschürt oder das Problem heruntergespielt wird. Weil dies letztlich der Gesellschaft schaden kann. Journalistinnen und Journalisten befinden sich also in dem Spannungsfeld, sowohl nach der Wahrheit zu recherchieren als auch eine gewisse Vorsicht und Rücksichtnahme walten zu lassen. Sich zu fragen: Welche Folgen könnten die Bilder der Särge von Bergamo haben?

Warum wirkt dieses Spannungsfeld in der aktuellen Krise stärker?
Weil wir alle mit einer sehr starken Ungewissheit konfrontiert sind und der Informationsbedarf gleichzeitig so hoch ist wie sonst kaum. Das Dilemma zeigt sich gerade in Krisen, aber auch bei grossen Naturkatastrophen oder bei terroristischen Anschlägen besonders stark. In einer ersten Phase solcher Krisen ist es normal, dass der Journalismus zuerst darauf fokussiert, quasi verantwortungsethisch zu verlautbaren: so schnell wie möglich relevante Informationen aus möglichst zuverlässiger Quelle weiterzuleiten.

Was macht die Coronakrise diesbezüglich speziell?
Dass alle mit Unwissen konfrontiert sind; nicht nur die Journalistinnen und Journalisten, sondern auch die Wissenschaft, von welcher der Journalismus gerne eindeutige Antworten hätte. Es ist jedoch nach wie vor schwierig, Wissen von Unwissen zu trennen. In einer solchen Situation liegt es nahe, sich zunächst auf die Informationen des Bundes zu verlassen und diese zu verlautbaren. Gerade zu Beginn beobachtete ich sehr stark eine Art der Berichterstattung, die man im Fachjargon «horse race journalism» nennt.

«Die Zahlen der gemessenen Neuinfektionen in den verschiedenen Ländern wurden quasi zu Ranglisten verarbeitet, als wäre Corona ein Wettbewerb.»

Vinzenz Wyss, Professor für Journalistik ZHAW

Und aus dem besonders betroffenen Bergamo wurden schockierende Bilder gezeigt. Das war sicher nicht Absicht, aber diese Art der Berichterstattung trug meines Erachtens zumindest am Anfang der Krise dazu bei, dass in der Bevölkerung eine gewisse Panik entstand. Mittlerweile aber erleben wir eine vielfältigere Berichterstattung – ohne dass verharmlost wird.

Sehen Sie einen Unterschied in der Verantwortung der öffentlichen Medien (SRG) gegenüber privaten Medien?
Grundsätzlich nicht, Verantwortung müssen alle tragen, welche öffentlich kommunizieren. Nun haben wir aber beim öffentlichen Rundfunk Mechanismen, die verlangen, dass diese Verantwortung stärker wahrgenommen wird: Es gibt bei den durch Gebühren finanzierten Medien die Konzessionen, die gewisse Leitplanken setzen, es gibt Publikumsräte und Ombudsstellen, die wachsam sind und zur Rechtfertigung zwingen.

Hat sich das Vertrauen der Konsumentinnen und Konsumenten in die Medien in den letzten Jahren verändert?
Mit dieser Frage beschäftigt sich die Wissenschaft seit Jahren immer intensiver. Was die Schweiz anbelangt, können wir diesbezüglich eigentlich Entwarnung geben, hier gibt es ein grosses Vertrauen in die Medien. Viele Studien kommen zum gleichen Ergebnis: Die Nutzung von etablierten Medien, die oft auch despektierlich als «Mainstreammedien» bezeichnet werden, fördert das Medienvertrauen; während die Nutzung von Alternativmedien sich negativ auf das Medienvertrauen auswirkt.

«Ein gesundes Misstrauen ist gar nicht einfach als schlecht zu interpretieren.»

Vinzenz Wyss, Professor für Journalistik ZHAW

Vertrauen ist ein komplexes Konstrukt und hängt nicht nur vom Medium und dessen Angebot ab, sondern auch von den Eigenschaften der Nutzenden und vom Kontext. Es wäre beispielsweise beunruhigend, wenn wir Zahlen wie in China hätten. Dort messen eher oberflächliche Studien, dass 90 Prozent der Menschen den Medien vertrauen.

Zu Beginn der Krise hielten sich die Medien unisono an das verantwortungsethische Prinzip, wenig wurde kritisch hinterfragt. Liess das Raum für Verschwörungstheorien?
Das halte ich immerhin für eine plausible These. Darum finde ich es gerade jetzt wichtig, dass die Medienschaffenden bewusst auf Menschen reagieren, die die Berichterstattung eher kritisch hinterfragen oder sich und ihre Sorgen und Ängste nicht erhört fühlen.

Können Sie ein konkretes Beispiel nennen?
Wenn eine alleinerziehende Mutter von drei Kindern einer möglichen Corona-Impfung kritisch gegenübersteht, aber das Gefühl hat, dass sie diese Angst gar nicht äussern darf, weil sie sonst als irrational und unsolidarisch gilt, sollten Medien meines Erachtens nicht Partei ergreifen, sondern zunächst mal vorurteilslos solche Ängste aufgreifen und thematisieren. Ich spreche nicht davon, Verschwörungstheoretikern einfach das Mikrofon hinzuhalten oder ihnen ganze Fernsehsendungen zu widmen. Es müssen aber Formen gefunden werden, in welchen solche Verunsicherungen aufgegriffen werden, ohne dass die äussernden Menschen mit allen in einen Topf geworfen werden, die nun gegen Massnahmen auf der Strasse demonstrieren. Man weiss, dass die Menschen, die gegen die Corona-Massnahmen demonstrieren, einen kleinen Teil der Gesellschaft ausmachen. Wir sollten aber die Macht der sozialen Medien nicht unterschätzen, denn dort finden Leute, die sich von der Berichterstattung alleingelassen oder nicht ernst genommen fühlen, rasch Zugang zu Verschwörungstheorien aus Alternativmedien.

Wie stark werden solche «alternativen Medien» überhaupt konsumiert?
Wir wissen aus verschiedenen Befragungen, dass Menschen, die sogenannte alternative Medien konsumieren, in der Schweiz einen sehr kleinen Teil der Konsumentinnen und Konsumenten ausmachen. An der ZHAW wurde zusammen mit der Uni Zürich in der Studie «Covid19 Social Monitor» festgestellt, dass gerade in der Coronakrise die Nachfrage nach den SRG-Medien enorm stark ist und dass die Bevölkerung den sogenannten Mainstreammedien auch viel stärker vertraut als «alternativen Medien».

Trotzdem: Wer den Medien nicht mehr vertraut, wendet sich von ihnen ab – und macht wahrscheinlich auch nicht an einer solchen Umfrage mit.
Das ist möglich. Genau deshalb finde ich, dass sich die Medienschaffenden jetzt vermehrt und bewusster darum bemühen müssten, diejenigen Konsumentinnen und Konsumenten nicht zu verlieren, die anfangen zu zweifeln und offenbar meinen, in den Alternativmedien Gehör zu finden.

Wie kann das gelingen?
Der Journalismus muss transparenter werden. Es kann helfen, Vertrauen zu gewinnen, wenn man aufzeigt, wie und warum man über ein Thema so berichtet, wie man es gerade tut. Susanne Wille zeigte beispielsweise auf Facebook immer wieder «Behind the scenes»-Aufnahmen. Und in Bezug auf Corona könnte das etwa heissen, dass Medienschaffende erklären, warum sie sich nicht mit Verschwörungstheorien auseinandersetzen. Ausserdem müssen langfristig Wege gefunden werden, wie man die Menschen erreicht, die News nur noch über Social Media konsumieren, dort selten Angeboten von Qualitätsmedien begegnen und auch nicht bereit sind, für Journalismus zu bezahlen.

Welche Beispiele einer ausgewogenen Berichterstattung über Corona ist Ihnen aufgefallen?
«Ausgewogenheit» halte ich für einen unjournalistischen Begriff. Es geht nicht darum, dass mit der Stoppuhr gemessen wird, ob allen Stimmen gleich viel Redezeit eingeräumt wird. Wichtig ist aber Vielfalt. So gab es auch in der Corona-Berichterstattung Geschichten, in denen man sich von der anfänglichen Dominanz der virologischen Sichtweise gelöst und auch die ökonomischen, sozialen und psychologischen Aspekte ausgeleuchtet hat. Da ist mir zum Beispiel ein Stück der «Republik» aufgefallen, in dem sehr früh schon der sinnvolle Umgang mit Angst thematisiert wurde – dies in einer Zeit, als alle auf die stark steigenden Zahlen der Infizierten und Toten starrten. Oder «Watson» brachte gerade jüngst einen Beitrag von einer Tochter, welche nach langer Zeit ihre demente Mutter besuchte. Geschichten, die das Leben eben auch schreibt, und Betroffene nicht alleinlassen.

Krisen bieten immer auch Chancen, heisst es. Was kann der Journalismus aus der Coronakrise lernen?
Glücklicherweise haben wir in der Schweiz noch immer einen starken Lokaljournalismus, eine grosse Nähe zum Regionalen. Gerade in manchen Regionen konnte man bald feststellen, dass etwa die Spitalbetten gar nicht so stark belegt waren, wie man zu Beginn der Krise befürchtete. Die Stärke der Lokaljournalistinnen und -journalisten liegt darin, dass sie mit dem Spitalpersonal sprechen und vor Ort fragen können, wie es sich anfühlt, mitten in einer Krise Kurzarbeit anmelden zu müssen, obwohl man einen Ansturm auf die Spitäler befürchtet. Dieses Paradox wurde gerade im Lokaljournalismus sehr gut aufgefangen. Wir lernen also, wie wichtig es ist, auf guten Lokaljournalismus zurückgreifen zu können, dessen Ressourcen ja auch längst bedroht sind. Wir konnten aber in der Coronakrise generell feststellen, wie wichtig vertrauenswürdiger Journalismus für die Gesellschaft ist. Jetzt wäre also ein guter Zeitpunkt, dass wir uns als Gesellschaft fragen: Wie halten wir diesen systemrelevanten Journalismus am Leben? Denn die nächste Krise kommt bestimmt.


Zur Person

Dr. Vinzenz Wyss forscht und lehrt an der ZHAW als Professor für Journalistik. Er beschäftigt sich mit Fragen der journalistischen Qualität und Qualitätssicherung, Medienethik und Medienkritik. Der Heimat-Solothurner hat an der Universität Zürich Germanistik, Publizistik und Soziologie studiert und 2002 promoviert. Wyss war Mitgründer des Vereins für Qualität im Journalismus, seit 2008 Inhaber der Firma Media Quality Assessment und von 2009 bis 2014 Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Kommunikations- und Medienwissenschaft. Zudem präsidiert er seit 2012 die Bildungskommission der SRG Zürich Schaffhausen.


Text: Miriam Suter

Bild: SRF/Oscar Alessio

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