Porträt Baptiste Planche
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«Unser Schaffen ist ein Seiltanz zwischen Mainstream und Innovation»

Seit diesem Frühling trägt Baptiste Planche bei SRF die Verantwortung für fiktionale Filme, TV-Serien und Auftragsproduktionen. Der ehemalige Filmproduzent über Zusammenarbeit, etablierte Erzählkonventionen, «Fast Track»-Fiktion und über den Punkt, an dem er und sein Team einer kreativen Vision ihr Vertrauen schenken müssen.

«Film ist etwas Magisches. Dank Bewegtbild und Ton können wir Geschichten auf eine einzigartig emotionale Art und Weise erleben. Wie jede Fiktion lässt Film uns im besten Fall die Realität um uns herum vergessen und bringt uns zum Nachdenken. Fiktion erlaubt es uns, in fremde Welten einzutauchen, Verständnis für andere Blickwinkel zu entwickeln. Ein Extrembeispiel dafür vermittelt ein Zitat der Schauspielerin und Politikerin Cynthia Nixon: ‹Ein Kunstwerk zu erschaffen, in dem jemand tötet, und dabei auch die Umstände zu schildern, die diese Figur dazu bewogen haben, sodass man als Zuschauerin denkt: Die Person hätte das nicht tun dürfen, aber ich kann mir vorstellen, an ihrer Stelle genauso gehandelt zu haben – das ist eines der wichtigsten Dinge, die Fiktion leisten kann›.

Fiktion kann uns helfen, komplexe Themen besser zu verstehen und Verhaltensmuster sowie deren Folgen zu erkennen. Damit stärken Geschichten den sozialen Kitt, der Gesellschaften zusammenhält. Und deshalb ist es für jede Kultur wichtig, dass sie ihre eigenen Geschichten in ihrer eigenen Sprache und ihren eigenen Dialekten erzählt und sich mit Themen auseinandersetzt, die die Menschen beschäftigen. Woher sollen wir sonst unsere Vorbilder und Antihelden nehmen, welche Geschichten sollen uns sonst nähren, wie sollen wir sonst unser Denken mit Geschichten organisieren? Mit unseren filmischen Geschichten schaffen wir einen unverzichtbaren kulturellen Mehrwert.

Gleichzeitig dürfen wir den unterhaltenden Aspekt von Fiktion nicht vernachlässigen. Damit Fiktion unterhaltsam ist und das Publikum erreicht, gilt es, sie nach den Regeln der Kunst zu gestalten. Hält man sich an etablierte Erzählkonventionen, ist die Chance grösser, damit ein breites Publikum zu er reichen. Oft steht im Kern eines Films oder einer Serie eine ähnliche Formel: Die Hauptperson steht vor einer Herausforderung, die sie überwinden muss. Die Frage, wie sie das tut, was sie dabei lernt und was sie aus der Erfahrung mitnimmt, ist der Stoff, aus dem Fiktion gemacht wird, die für ein breites Publikum zugänglich ist. Die Figuren sind das Herz der Geschichte, das, was sie umtreibt, ist der Motor. Dabei ist es sekundär, ob man die einzelnen Protagonistinnen und Protagonisten liebt oder hasst, sie bewundert oder verachtet. Wichtig ist, dass die Zuschauerinnen und Zuschauer Lust haben, ihnen zu folgen, und ein Interesse daran haben, sie besser kennenzulernen und zu verstehen. Erzählerische Grundprinzipien und die Figurenzeichnung sind unabdingbare Ingredienzien – ein Standardrezept für gelungene Fiktion gibt es aber nicht. Im Entstehungsprozess einer Geschichte stellen der Aufbau der Handlung und die Ausformung der Charaktere komplexe Aufgaben dar. Intuition und ein Gespür für Zusammenhänge bleiben unersetzliche Fähigkeiten im fiktionalen Schaffen.

Nun wollen wir mit unseren Fiktionen aber auch gesellschaftliche Identifikationsprozesse fördern und dazu an die Lebenswelten, Realitäten, Fragender Bevölkerung anknüpfen. Mit Themen, denen eine gewisse Sinnhaftigkeit und Intelligenz inhärent ist, die wir fiktional verarbeiten. Wie gelingt uns das, ohne der Gefahr zu verfallen, edukatives Fernsehen zu machen? Wir dürfen und wollen dem Publikum keinesfalls die Welt erklären, sondern es im besten Fall dabei unterstützen, sich selbst die Welt etwas besser erklären zu können. Natürlich wollen wir grosse gesellschaftliche Themen und soziale Phänomene aufnehmen. Die Klimakrise, der Wandel im Verständnis von Diversität, die Auswirkungen von Krieg, die Folgen der Pandemie – all diese Themen dürfen nicht spurlos an der Fiktion vorbeigehen. Wir müssen sie aber auf subtile Art und Weise und mit gewissen Vorbehalten in unsere Geschichten aufnehmen.

Ein gutes Beispiel dafür ist die Serie ‹Neumatt›. Im Kern ist es die Geschichte einer Familie. Wir sind nahe bei Michi, seinen Geschwistern, seiner Mutter, und was sie als Figuren – als Menschen – umtreibt, treibt als Motor auch die Geschichte an. Das Überleben und die Zukunft des Familienbetriebs spielen dabei eine wichtige Rolle. Aber auch Gegensätze zwischen dem Leben auf dem Land und in der Stadt, komplexe Herausforderungen der modernen Landwirtschaft und die Frage, wie wir uns ernähren, sind Themen, die ‹Neumatt› bespielt. Es geht hier um eine stimmige Gewichtung von Themensetzungen und erzählerischem Kern.

Für uns besteht eine Herausforderung darin, dass wir aktuelle Themen innert nützlicher Frist fiktional aufnehmen können. Durchschnittlich dauert es drei bis vier Jahre von der ersten Idee bis zur Ausstrahlung. Während dieser Zeitspanne kann sich viel verändern. Deshalb ist es selten möglich, auf aktuelle Themen Bezug zu nehmen. Mit der neuen Serie ‹Emma lügt› ist uns dies aber gelungen. Die zunächst harmlosen Lügengeschichten der achtjährigen Primarschülerin Emma verwickeln ihre chaotische Familie in einen Diskurs: Darf man lügen? Und wenn ja, wann? Die Serie wurde als sogenannte ‹Fast Track›-Fiktion konzipiert, was es uns ermöglicht hat, den Entwicklungs- und Herstellungsprozess auf weniger als ein Jahr zu reduzieren. Jede Folge spielt in Echtzeit und an nur einem Drehort. Aufgrund der hohen Entwicklungs- und Produktionsgeschwindigkeit konnten auch aktuelle Themen wie Fake News, die Klimajugend und sogar der Krieg in der Ukraine in die Serie einfliessen und mehr oder weniger direkt behandelt werden.

Unser Auftrag besteht darin, intelligente Unterhaltung für ein breites Publikum zu bieten. Als öffentlich finanziertes Medienhaus müssen wir mit unseren Formaten möglichst grosse Anteile der Bevölkerung der Deutschschweiz erreichen. Andererseits müssen wir auch den Mut haben, Neues zu wagen, um insbesondere das jüngere Publikum anzusprechen. Dies wiederum birgt das Risiko, dass wir nicht immer ganz die angestrebte Breite erreichen. Es ist ein Seiltanz, eine Gratwanderung ... Wir versuchen, den goldenen Pfad zu finden zwischen Mainstream und Innovation.

Das kann uns gelingen, wie die Walliser Polizeikomödie ‹Tschugger› eindrücklich bewiesen hat: eine schräge Geschichte mit viel Lokalkolorit, gekonnt erzählt und mit einer ganz eigenen Vision. ‹Tschugger› war ein absoluter Glücksgriff für uns, der unglaublich viel Begeisterung ausgelöst hat.

Auf einen solchen Erfolg kann man zwar hoffen, sich aber nie darauf verlassen. Deshalb müssen mein Team und ich auch immer etwas Mut beweisen. Man kann viel diskutieren, viel analysieren, viele Annahmen treffen, aber irgendwann kommt der Zeitpunkt, an dem wir einer kreativen Vision unser Vertrauen schenken müssen. Manchmal wird das belohnt und manchmal nicht. Auch das ist Teil eines kreativen Prozesses.

Ich rede und schreibe gern in Wir-Form, denn fiktionales Schaffen ist Teamarbeit. Wir bei SRF sind auf unsere externen Partner angewiesen: Autorinnen, Produzenten, Regisseurinnen und eine Vielzahl von kreativen und technischen Talenten, die das Schweizer Film- und Serienschaffen in enger, kreativer Zusammenarbeit voranbringen. Aber auch das Team Fiktion von SRF trägt Entscheidendes bei. Wir sind nicht die Macherinnen und Macher. Wir sehen uns nicht als das, und wir sind nicht die federführenden kreativen Köpfe. Wir haben allerdings Stärken, die wir in die Entstehungsprozesse der fiktionalen Formate von SRF mit einbringen.

Wir kennen und hüten die oben beschriebenen Erfolgsfaktoren von Fiktion, und wir haben Erfahrung. Wir verstehen inzwischen ziemlich gut, was unser Publikum mag, was gut bei ihm ankommt, auf welche Art man es herausfordern darf und wo eine Idee eben doch zu ‹nischig› ist, um von einem gebührenfinanzierten Sender produziert zu werden. Eine weitere Stärke ist unsere Vielfalt. Wir alle bringen unsere eigenen Geschichten mit in unsere Arbeit. Unterschiedliche Herkünfte, sprachliche, geografische und soziale Hintergründe, Lebenswege, Bildungs- und Berufserfahrungen haben uns zusammengeführt. Wir stehen mitten im Leben, leben in unterschiedlichen Regionen der Schweiz. Und bringen dies alles in unsere Arbeit ein – damit vielfältige, intelligente und sinnstiftende Unterhaltung für ein breites Publikum entsteht.»

Baptiste Planche ist seit 1. Mai 2022 neuer Leiter Fiktion bei SRF und trägt dabei die Verantwortung für fiktionale Filme, TV-Serien und Auftragsproduktionen. Planche arbeitet seit 2018 als Herstellungsleiter Fiktion und verantwortete in dieser Funktion Filme und TV-Serien, die SRF koproduziert, sowie Auftragsproduktionen wie den Schweizer «Tatort». Vor seinem Wechsel zu SRF war Planche als selbstständiger Filmproduzent tätig und hat ein Start-up für interaktive Filme aufgebaut, das inzwischen nach Los Angeles umgesiedelt ist. Er hat Sozialwissenschaften studiert und absolviert seit 2021 eine Weiterbildung zum Master in Management und Leadership an der ZHAW.


Text: Nicole Krättli

Bild: SRF/Matthias Willi

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