Muriel Straub vor Projektor, der Licht auf ihr Gesicht wirft, projiziert Buchstaben auf Gesicht
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Muriel Staub: «Es braucht eine gemeinsam geteilte Realität»

Welchen Einfluss haben das Sammeln, das Kuratieren und das Publizieren von Informationen auf die Gesellschaft und die Realität? Muriel Staub hat sich als ehemalige Präsidentin von Wikimedia Schweiz mit diesen Themen auseinandergesetzt.

Zur Person

Muriel Staub (37) ist ehrenamtliche Wikipedia-Autorin und amtete die letzten sieben Jahre als Präsidentin von Wikimedia CH, dem Schweizer Ableger der Wikimedia Foundation (WMF) in den Vereinigten Staaten, die als Stiftung Wikipedia aller Sprachversionen betreibt. Zusammen mit Katia Murmann und Patrizia Laeri gründete Muriel Staub im Jahr 2018 die Initiative «Edit-a-thon – Frauen für Wikipedia» für mehr Diversität auf Wikipedia. Dieser Anlass findet jährlich in Kooperation mit Ringier und SRF statt.

Muriel Staub, Wikipedia wurde vom «Atlantic» als «letzte Bastion der geteilten Realität» bezeichnet. Inwiefern widerspiegelt Wikipedia die Realität überhaupt?

Enzyklopädien hatten schon immer den Anspruch, die Realität abzubilden und sie den Menschen zugänglich zu machen. Das war schon bei Britannica oder Brockhaus so, geht aber natürlich noch viel weiter zurück. Bei Wikipedia kann man sehr frei mitwirken, es gibt wenig Regeln. Ein Grundprinzip ist aber auch hier der neutrale Standpunkt. Wikipedia betreibt keine Grundlagenforschung, sondern beruft sich auf etabliertes Wissen mit entsprechenden Quellenangaben, damit die Leser:innen sehen, woher eine Information stammt, und sie selber weitereintauchen können.

Das wirft die Frage auf: Welchen Quellen kann man vertrauen?

Wissenschaftliche Publikationen sind generell zu bevorzugen. Für aktuelle Geschehnisse wie etwa den Krieg in Gaza und Israel sollten nicht nur Medien wie «The Times of Israel» oder «Al Jazeera» als Quellen herbeigezogen werden. Wie man der Neutralität näherkommt, ist eine der Kernfragen von Wikipedia. Gerade bei aktuellen Geschehnissen ist das sehr schwierig: Können wir historische Ereignisse wie derzeitige Kriege überhaupt jetzt schon objektiv einordnen, ohne zeitliche Distanz? Deshalb schränkt Wikipedia bei aktuellen Themen die Mitarbeitsrechte ein Stück weit ein, weil diese Wikipedia-Einträge sehr anfällig sind für Manipulation, sie aber gerade wegen ihrer Aktualität sehr häufig aufgerufen werden.

Lebt denn nicht gerade eine Demokratie von alternativen und konkurrierenden Wirklichkeitsentwürfen?

Unterschiedliche Perspektiven sind wichtig. Bei der Mondlandung erwähnt Wikipedia auch, dass diese angezweifelt wird. Aber dieser Standpunkt wird im Beitrag entsprechend weniger gewichtet. Die Frage ist, was passiert, wenn es keinen gemeinsamen Nenner mehr gibt.

«Es gibt nicht die eine Wahrheit. Aber es geht darum, was unabhängig von meinem persönlichen Standpunkt vorhanden ist.»

Wenn die unterschiedlichen Realitäten so stark auseinandergehen, dass man keine Schnittmenge mehr hat. Als Voraussetzung und Grundlage für eine funktionierende Demokratie braucht es eine gemeinsam geteilte Realität. Gleichzeitig muss man sich bewusst sein, dass es überall Vorurteile und Bias gibt, je nachdem, wie wir aufgewachsen sind und was uns geprägt hat.

Gibt es eine objektive Realität überhaupt?

Objektivität ist als Begriff sehr komplex. Es gibt nicht die eine Wahrheit. Aber es geht darum, was unabhängig von meinem persönlichen Standpunkt vorhanden ist. Schlussendlich sind es wahrscheinlich Subgruppen, die eine Realität teilen. Das zeigt sich für mich zum Beispiel bei Religionen, aber auch bei Paradigmen in der Wissenschaft oder in der Politik.

Wie schützt sich Wikipedia vor Propaganda, Fake News und Verschwörungstheorien?

Worauf Wikipedia setzt – und was ich bei anderen Plattformen vermisse –, ist die radikale Transparenz. Alle haben die Möglichkeit, bei jedem Artikel nachzuschauen, wer was wann editiert hat. Ich kann eine Zeitreise machen und zum Beispiel im Beitrag zu SRF bis ins Jahr 2010 zurückgehen und mir die Versionsgeschichte anschauen. Man sieht nicht nur die Veränderungen, sondern auch, welche Diskussionen über welche Abschnitte geführt worden sind. Wo waren die Brennpunkte, welche Ansichten gab es, wie wurde entschieden? Diese Transparenz zieht sich durch das ganze System. Die Nachvollziehbarkeit ist fundamental: Ich kann nichts ändern, ohne dass dies akribisch im Logbuch festgehalten wird.

Also ähnlich wie in der Wissenschaft.

Genau. Diese Rekonstruktionsmöglichkeit und Transparenz sind die DNA von Wikipedia. Ich bin überzeugt, dass sich Wikipedia deshalb überhaupt halten konnte. Das Geschäftsmodell trägt ebenfalls dazu bei: Da Wikipedia nicht gewinnorientiert ist und keine Werbung hat, geht es nicht darum, Leser:innen möglichst lange auf der Plattform zu halten. Das spendenbasierte Modell führt zu einer Unabhängigkeit: Man kann sich aufrichtig auf das Sammeln und das Zugänglichmachen von Informationen fokussieren, ohne dabei noch andere Interessen verfolgen zu müssen. Nebst Transparenz und Geschäftsmodell ist das dritte Element die kritische Masse: Zahlreiche Personen schauen einander auf die Finger und stellen sicher, dass unterschiedliche Perspektiven eingetragen werden. Während es auf vielen Social-Media-Plattformen den User:innen bei der Produktion von Inhalten oft um Selbstdarstellung, mehr Likes und Followers geht, ist dies bei Wikipedia anders. Das sind Leute, die das am freien Abend als Hobby machen – ohne, dass für sie ein Vorteil herausspringt.

Allerdings wird ein Grossteil der Beiträge von Männern verfasst. Verzerrt das nicht die Realität?

Es widerspiegelt auch die Realität, in der wir uns bewegen. Aber natürlich beeinflusst dieser Bias, welche Inhalte auf Wikipedia erscheinen und welche Perspektiven vertreten sind. Es gibt zwar nicht viele verlässliche Erhebungen, da sie auf Umfragen basieren, die teilweise veraltet sind – Nutzer:innen müssen solche Angaben ja nicht machen, wenn sie auf Wikipedia mitwirken wollen –, aber bei diesen Umfragen konnte man tatsächlich feststellen, dass die Mehrheit Männer zwischen 17 und 40 Jahren sind.

Welche anderen Faktoren spielen eine Rolle?

Es gibt nicht nur Übervertretungen von gewissen Gruppen, sondern auch solche, die komplett ausgeschlossen sind – nicht nur soziodemografisch. Ein Beispiel sind Kulturen, die keine Schriftsprache kennen, also beispielsweise indigene Communitys, bei denen nur mündliche Überlieferungen existieren. Für Wikipedia braucht es jedoch eine schriftliche Quelle.

«Es ist eine eurozentrische Sicht, die in Wikipedia reingetragen wird.»

Auch Menschen ohne Internetzugang können nicht zu Wikipedia beitragen. Es gibt also grosse Lücken. Dies kann weitreichende Konsequenzen haben: Da die riesigen Datenbestände von Wikipedia und Wikidata – der Datenbank hinter Wikipedia – benutzt werden, um künstliche Intelligenz wie ChatGPT zu trainieren, werden Lücken und Stereotypen zementiert und Verzerrungen reproduziert. Das muss man sehr kritisch beobachten.

In einem Interview haben Sie einmal erzählt, dass beim Thema Homöopathie die französische Version ganz andere Quellen verwendet als die deutsche Version. Was ist denn nun real, was entspricht der Wirklichkeit?

Bei den deutschsprachigen Einträgen sieht man den Einfluss der deutschsprachigen Quellen, also von entsprechenden Medien, Forschung und Literatur. Es ist eine eurozentrische Sicht, die in Wikipedia reingetragen wird. Was den Leuten nicht bewusst ist: Häufig entstehen Artikel in den jeweiligen Sprachen von Grund auf neu. Wer auf Französisch, Spanisch oder Portugiesisch über Kolonialismus recherchiert, wird andere Resultate erhalten, als wenn man den deutschsprachigen Eintrag dazu liest. Das sieht man nicht nur am Inhalt, sondern auch am Aufbau, an der Gewichtung und an der Bildsprache. Es stellt sich somit die Frage: Gibt es sprachraumbedingte Realitäten? Aus der Wikipedia-Sicht des neutralen Standpunkts müsste man wohl sagen, es braucht eine Metaversion, die alle 300 Sprachversionen gemäss ihrer Gewichtung in einer konsolidierten, ausgewogenen Version abzubilden versucht.

Heisst das, Realität ist der Konsens der Mehrheit?

Nein, ganz sicher nicht. Vielleicht kann man es nuancierter anschauen. Man kann davon ausgehen, dass es sich bei einem Artikel, der von sehr vielen Leuten editiert wird, tendenziell um einen ausgewogeneren Artikel handelt als bei einem, der nur aus einer Feder stammt. Viele Ergänzungen, Löschungen, Überarbeitungen sind ein Indiz dafür, dass mehr Perspektiven reingefunden haben und somit die Anfälligkeit für einen dominierenden Standpunkt kleiner ist.

Welche Rolle spielen die Medien bei der Darstellung und der Wahrnehmung von Realität?

Gerade die Gatekeeper-Funktion der Medien wird meiner Meinung nach immer wichtiger. Ein Video ist heutzutage innerhalb weniger Minuten kreiert. Medien sind noch stärker gefordert, rasch einzuordnen und Fakten zu verifizieren. Weil wir sowohl mit Bild- und Videomaterial als auch mit Texten überflutet werden, überfordert uns die Einordnung als Privatpersonen.

«Bei den Quellenangaben könnten die Medien etwas lernen von Wikipedia.»

Medien können diese Rolle einnehmen und den nötigen Kontext und Hintergrundinformationen bieten, um ein Thema holistisch zu betrachten. Das Schaffen von Transparenz wird an Bedeutung zunehmen: Woher die Informationen stammen, auf die sich Medienschaffende stützen, wird vermutlich ein immer grösserer Teil des Journalismus. Dort könnten die Medien etwas lernen von Wikipedia, wo ja die Quellen stets angegeben und verlinkt sind.

Ist dies eine Chance für die Medien als neue wichtige Funktion in der Gesellschaft?

Für mich ist evident, dass es die Medien für diesen Bereich brauchen wird. Die Frage ist: Wer ist bereit, dafür zu bezahlen? Wir werden uns noch mehr gewöhnt sein, dass Inhalte gratis zugänglich sind. Eine andere Herausforderung ist die Ausbildung: Ist die Fachkompetenz in diesen Bereichen vorhanden, um Videomaterial usw. zu verifizieren? Das war in der Vergangenheit wahrscheinlich nicht Teil des Kerngeschäfts. Jetzt braucht es vielleicht bald ganze Abteilungen, die verifizieren. Man wird womöglich auch mit anderen Akteur:innen zusammenarbeiten müssen, etwa mit NGOs und Expert:innen, die Satellitenbilder überprüfen. Dadurch können sich neue Kooperationen ergeben, oder auch neue Geschäftsmodelle. Warum nicht eine neue Form von Medienunternehmen, das sich auf Verifikation spezialisiert, sodass Zeitungen dies outsourcen können?

Umgekehrt überlegt: Müssen Medien künftig deklarieren, dass ein Bild oder ein Video «real» ist?

Dass die Nutzung von KI deklariert werden muss, ist für mich auf jeden Fall ein Must. Vielleicht wäre das aber auch bei realen Inhalten eine gute Idee. Ich finde: Lieber einmal etwas mehr explizit machen, als etwas zu «verschweigen». Medien machen das ja bei Archivmaterial bereits: Wird bei der Berichterstattung über eine Partei ein Foto einer Tagung von letztem Jahr verwendet, wird dies mit Datum und Ort gekennzeichnet. Ich fände es schlüssig, wenn in dieser neuen Ära, in der künstlich generierte Bilder omnipräsent sind, dies in einer zusätzlichen Legende auch deklariert wird – sowohl bei einem KI-generierten Bild als auch bei einem nicht KI-generierten Bild. Allerdings stellt sich die Frage, wo das hinführt: Müsste man alles offenlegen, wofür man KI eingesetzt hat? Auch, wenn nur ein kleiner Teil des Artikels mit KI entstanden ist? Mitautorin ChatGPT – das fände ich als Leserin noch sympathisch. Vielleicht ist das aber auch naiv, und man muss ohnehin davon ausgehen, dass KI gebraucht wird? Es wird ja auch nicht darauf hingewiesen, dass ein Rechtschreibeprogramm verwendet wurde. Dennoch: Aus Leserinnenperspektive würde ich mir so viel Transparenz wie möglich wünschen.

Medien haben auch einen Einfluss auf Wikipedia, etwa, was die Unterrepräsentation von Frauen angeht. Ein berühmtes Beispiel ist der Wikipedia-Beitrag zur Physiknobelpreisträgerin Donna Strickland, der zuerst abgelehnt wurde, weil es zu wenig Berichterstattung über sie gab und sie deshalb als nicht relevant genug eingestuft wurde. Konstruieren die Medien die Realität also mit?

Es ist eine spannende Diskussion: Inwiefern sind Medien Abbild der Realität und inwiefern prägen sie die Realität selber mit? Bei Wikipedia besteht tatsächlich die Gefahr, dass ein Beitrag gelöscht wird, wenn kein Quellenmaterial besteht – also, wenn es keine Zeitungsartikel über diese Frau gibt, keine Interviews, sie nicht eine gewisse Anzahl Sach- oder Fachbücher verfasst hat, noch keinen Professorinnentitel hat. Dann scheint sie zu diesem Zeitpunkt nicht genügend relevant.

«Je mehr Diversität es in den Medien gibt, desto mehr Quellen für diverse Beiträge auf Wikipedia gibt es.»

Während der Coronapandemie haben wir gezielt Frauen aus dem Fachbereich Epidemiologie recherchiert und in Wikipedia geschrieben – damit diese bei Google-Suchen besser auffindbar sind und dadurch vielleicht auch eher für Interviews angefragt werden. Wikipedia-Artikel erscheinen auf Google zum Teil weiter oben als etwa die Mitarbeiterwebseiten von Universitäten. Das Problem besteht somit in beiden Richtungen – etwas zugespitzt formuliert: Wer nicht in den Medien ist, kommt nicht auf Wikipedia; wer nicht auf Wikipedia ist, kommt nicht in den Medien.

Sollten Journalist:innen Wikipedia weniger verwenden?

Im Gegenteil: Medien können dazu beitragen, Wikipedia diverser zu machen. Projekte wie «chance 50:50» von SRF, die die Gesellschaft repräsentativer abbilden wollen, finde ich sehr spannend. Sie verfolgen das Ziel, diversere Gruppen zu zeigen, und nehmen zudem den Extraaufwand auf sich, das zu messen. So verfügt man auch über eine Datenlage und weiss, wie es mit der Geschlechterverteilung aussieht. Dies wiederum hilft auch Wikipedia: Je mehr Diversität es in den Medien gibt, desto mehr Quellen für diverse Beiträge auf Wikipedia gibt es.

11. Edit-a-thon am 14. Mai 2024

Der regelmässig stattfindende Edit-a-thon ist eine Initiative, die Frauen mehr Präsenz auf Wikipedia verschaffen will. Frauen sind nach wie vor unterrepräsentiert in der Online-Enzyklopädie. Der Edit-a-thon «Gemeinsam für mehr Sichtbarkeit auf Wikipedia» wurde 2017 von Ringier, Wikimedia CH und Schweizer Radio und Fernsehen (SRF) ins Leben gerufen. Bis daton konnten schon über 500 Artikel auf Wikipedia editiert werden. Muriel Staub gehört zu den Mitgründerinnen des Edit-a-thons.


Text: Eva Hirschi

Bild: zVg/Thomas Meier

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