Die drei Wellen der digitalen Gesellschaft
Wie sieht die mediale Zukunft aus? Was bedeutet die Digitalisierung für die Gesellschaft? SRG-Generaldirektor Gilles Marchand spricht über digitale Popstars, Medienkonzentration und iPhones auf Rädern.
Das Wichtigste in Kürze
- Die Diskussion bezüglich Art und Ausgestaltung des Service public wird gegenwärtig europaweit diskutiert.
- Die Fragen nach Medienkonzentration, Medienunabhängigkeit und Meinungsfreiheit sind drängend.
- Im Kontext der Digitalgesellschaft werden die Fragen zur medialen Zukunft umso drängender.
- Es lassen sich drei grosse Wellen der Digitalisierung unterscheiden: Virtuelle Realität, «Ambient Communication» und künstliche Intelligenz.
Die Lage der Medien wird derzeit in der Schweiz lebhaft – und nicht selten mit viel Vehemenz – debattiert. Nachdem das Volk die emotional aufgeladene Kampagne zum neuen Gebührensystem 2015 mit einem knappen Ja quittiert hatte, befasste sich auch das Parlament mit dem Thema. Hier ging es allerdings um grundlegende Fragen. Wie weit soll der Auftrag des Service public gehen? Wie lässt er sich finanzieren? Wie lassen sich Public-Private Partnerships aufbauen?
In unserem kleinen, mehrsprachigen und multikulturellen Land erregt diese Diskussion mit ihren festgefahrenen Positionen immer wieder die Gemüter. Auch im restlichen Europa ist dieses Thema aktuell: Es geht um die Konzentration der Medien, ihre Unabhängigkeit, ja gar um die Meinungsfreiheit. Die hitzigen Diskussionen sind auch ein Indikator für die Gesundheit unserer europäischen Demokratien. Öffentliche Debatten mit Tiefgang sind ohne Medien kaum denkbar. Zum Glück, muss man sagen, interessiert sich die Öffentlichkeit derart intensiv für sie. Aus einer US-amerikanischen Perspektive stellen sich diese Debatten allerdings ganz anders dar, vor allem wenn man sich in San Francisco befindet, wo es eher um das Unterhaltungspotenzial der Medien und der verwandten Dienstleistungen geht. Der digitale Wandel ist vollzogen: Die Jugendlichen «verschwenden» ihre Zeit nicht mehr an generalistische Leitmedien, um sich zu informieren. Sie unterhalten sich in anderen digitalen Räumen, naschen und picken einmal an diesem und einmal an jenem Angebot – selbstverständlich voll und ganz personalisiert und vernetzt.
Hier lassen sich drei grosse Wellen unterscheiden, die sich schon seit einiger Zeit abzeichnen, nun aber ungeahnte Ausmasse angenommen haben. Eine Umkehr ist nicht mehr möglich. Diese drei Wellen werden unser Leben verändern, unsere Entscheidungen beeinflussen und alles, was noch von der schönen alten Medienordnung übrig ist, über den Haufen werfen. Unsere Diskussion hier in der Schweiz sollte daher nicht «im Glashaus» stattfinden. Die Globalisierung der Medienlandschaft ist inzwischen schon lange Realität. Daher sollte man wissen, was anderswo zusammengebraut wird, um zu vermeiden, dass es bei uns überkocht. Und diese Entwicklungen müssen wir bei unseren Überlegungen zwingend und umgehend berücksichtigen. Hatsune Miku for president!
Virtueller Popstar
Die erste grosse Welle hängt mit der virtuellen Realität zusammen. Attraktiv aufbereitete spielerische Effekte bereiten ihr den Weg für ihren späteren grossen Auftritt. Die Realität wird «erweitert» und Fantasiewelten erfunden, in denen man trotz der noch etwas klobigen und seltsam anmutenden Virtual-Reality-Brille bereits nette Spaziergänge unternehmen kann. Die Effekte sind verblüffend, der Fortschritt kennt keine Grenzen. Neue Idole treten auf und ziehen hysterische – aber reale – Massen in ihren Bann.
Die japanische Popikone Hatsune Miku wirkt, als sei sie direkt den Seiten eines Manga-Comics entstiegen. Sie «lebt» aber dank Hologrammen, sie gibt Konzerte, lädt sich in die Kinderzimmer dieser Welt ein und entwickelt eine unaufhaltsame Merchandising-Strategie. Die Humanoidin Miku gehört zum Stamm der Vocalaid, sie ist als Vorgruppe für Lady Gaga aufgetreten und hat Hunderttausende von Fans. Die technologischen Fortschritte im Bereich virtuelle Realität beschleunigen auch die Einführung von E-Sport. Sport an der Konsole in den eigenen vier Wänden, mit eigenen Athleten, die sich mit Energydrinks aufputschen. Neue Wettkämpfe entstehen, deren Regeln gemeinschaftlich von E-Sportlern entwickelt werden. Kurz gesagt: Die virtuelle Realität zeichnet eine imaginäre und (für manche) traumhafte Welt, eine Zuflucht vor den Problemen der Wirklichkeit. Autos? Was für Autos? Nichts als iPhones auf Rädern.
iPhones auf Rädern
Die zweite Welle bezeichnet man in Stanford mit dem Begriff «Ambient Communication». Sie umfasst eine vollständige und permanente Verbindung aller unserer mehr oder weniger intelligenten Geräte. Die Staus zwischen San Francisco und Palo Alto scheinen geradewegs aus den Höllenkreisen Dantes zu kommen. Fahrzeug reiht sich an Fahrzeug zu einem immensen, lückenlosen Teppich. Für die Entwickler in der «Bay Area» sind diese Blechlawinen aber nur eine Masse von iPhones auf Rädern. Fahrzeuge werden zu intelligenten, vernetzten Assistenten, die tausend Funktionen beherrschen und nebenbei noch fahren können. «Soft Driving» heisst das neue Eldorado, insbesondere in der Medienindustrie, die bereits vom «Inflight Entertainment» im Auto spricht. Uber arbeitet an einer App, die Reisende auf dem ganzen Weg begleitet und alle möglichen Dienstleistungen anbietet – sicherlich auch die eine oder andere Nachrichtenmeldung. Uber scheint sich als «Herr» der Zeit zu begreifen, die man in Uber-Fahrzeugen verbringt, und versucht sie natürlich auch wirtschaftlich für sich zu nutzen.
Die meisten Alltagsgegenstände dürften eine ähnliche Entwicklung erfahren. Total vernetzt und interaktiv speichern sie in Zukunft unser Verhalten und unsere Gewohnheiten, um unsere Bedürfnisse zu antizipieren, Empfehlungen abzugeben, uns zu unterstützen und natürlich auch zum Konsum zu verlocken. Dieses unendliche Netz schafft eine Art «Echoglocke», die uns einhüllt, Gespräche und Handlungen überträgt und all dies durch leistungsfähige Algorithmen beobachten und konsolidieren lässt, woraus sich letztlich etwas einigermassen Kohärentes ableiten lässt.
Mehr oder weniger sanfte «Empfehlungen»
Alle diese Phänomene sind allerdings nichts im Vergleich zur dritten Welle, einer eigentlichen Flutwelle, die sich erstaunlich schnell auftürmt. Die Rede ist von der künstlichen Intelligenz (KI oder auch AI für Artificial Intelligence). Aus der Beobachtung unserer Lebensweise werden Daten gewonnen, die es erlauben, in Kombination mit einer Vielzahl von objektiven Faktoren, wie der demografischen Lage, den Klimaverhältnissen oder auch der Energieversorgung, Schlüsse zu ziehen, aus denen mehr oder weniger sanfte «Empfehlungen» abgeleitet werden. Mit KI lässt sich mit grosser Wahrscheinlichkeit feststellen, was uns gefällt, wozu wir Lust haben, was wir lesen, anhören oder ansehen wollen. Sie beantwortet unsere Fragen, noch bevor wir sie gestellt haben. Sie kennt unsere Gesundheits-, Beziehungs- und Geldprobleme, bevor wir sie selbst realisieren, da sie unser heutiges und vergangenes Verhalten bis ins kleinste Detail analysiert. Sie wird so letztlich zur Richtschnur für unser Handeln. Um all diese KI bereitzustellen, sind Kommunikationsschnittstellen erforderlich. Sie dürften sich in nächster Zeit rapide verbreiten. Eine Art «Immersions-Notschalter» in Echtzeit für alles und jedes, der sich auf Milliarden von Daten abstützt. Diese Daten werden kontinuierlichen Data Minings unterzogen, um eine möglichst vorhersehbare Gesellschaft zu entwerfen.
Nach der Flut
All dies sind beeindruckende Entwicklungen, die derzeit die hellsten Köpfe im Silicon Valley beschäftigen. Und dort gibt es viele äusserst helle Köpfe! Und alle streben sie nach der rosigen Zukunft, die nicht zuletzt für Start-ups winkt, die diese neuen Fachgebiete erschliessen. Was aber folgt auf diese neuzeitliche Sintflut? Wie sehen die Küsten nach einem solchen Tsunami aus?
In einer solchen Landschaft wirken Zeitungen, Radio und Fernsehen schon fast wie Relikte einer vergangenen Zeit, die man besucht, um in Erinnerungen zu schwelgen. Ihr Einfluss ist heute gleich null. Ihre Geschäftsmodelle sind eingebrochen, ihre Meinungen und Standpunkte lassen die Öffentlichkeit kalt. Meinungen werden andernorts gemacht, im direkten Austausch, auf allen möglichen Netzwerken.
Ob sich auf diesem Weg die demokratische Gesellschaft wieder beleben lässt, in der sich jede und jeder einbringen kann? Wenn man die Qualität der politischen Diskussion «Clinton/Trump» als Zeichen sieht für das, was uns bevorsteht, dürften hier wohl Zweifel angebracht sein. Die Wellen lassen sich aber auch nicht einfach ignorieren, das wäre leichtsinnig und absurd. Sie rollen unaufhaltsam heran. Daher sollten wir sie vielmehr analysieren und sinnvoll für uns nutzen.
Mit den Möglichkeiten der virtuellen Realität können beispielweise Ausbildungs- und Informationsfilme aller Art interessanter gestaltet werden. Es ist Aufgabe der Medien, zwischen wahr und falsch zu unterscheiden, Schädliches auszusortieren, Farbe zu bekennen und sich nicht täuschen zu lassen. Vernetzte Maschinen, «Ambient Communication» – warum nicht? Bestimmte Dienstleistungen dürften ganz nützlich sein. Unter einer Bedingung: Es muss grundsätzlich und jederzeit möglich sein, den Ausschaltknopf zu drücken, um diesen Maschinen nicht ganz und gar zu verfallen. Dies ist eine Grundfreiheit, die unsere Institutionen unter allen Umständen verteidigen müssen.
Der Einsatz von künstlicher Intelligenz ist auf Gebiete zu beschränken, in denen sie effektiv nützlich ist, wie etwa für Prognosen oder als Entscheidungsgrundlage für den Menschen – und nicht als Entscheidung der Algorithmen selber, die sich eine «Meinung» bilden. In Europa müssen wir uns mit diesen Fragen befassen. Auch die Geisteswissenschaften müssen sich dieses Themas dringend annehmen, es erforschen und öffentlich zur Diskussion stellen. Es handelt sich hier um einen Notfall philosophischer, soziologischer und ethischer Art. Emmanuel Garessus hat an dieser Stelle bereits zu Recht darauf hingewiesen, dass wir hier auf der feinen Trennlinie zwischen Innovation und Fortschritt balancieren. Wir müssen diese Entwicklungen verstehen und darüber sprechen, ohne Furcht und ohne einzuknicken. Aber auch ohne Illusionen. Nicht alles, was unter der Sonne von Palo Alto glänzt, ist auch Gold.
In diesem Licht betrachtet erhält die Debatte über die Rolle der Medien eine ganz andere Dimension.
Der Artikel erschien erstmals am 11. November 2016 auf dem Blog von Gilles Marchand .
Kommentar