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«Die Glückskette ist heute mehr als nur ein Geldgeber»

Seit 70 Jahren sammelt die Glückskette Gelder für Menschen in Not. Wie sich die humanitäre Hilfe seither verändert hat und wann sich die Schweizerinnen und Schweizer besonders spendebereit zeigen, hat LINK den Direktor der Glückskette gefragt.

In einem feinen Rinnsal schlängelt sich der Glyssibach an diesem schönen Herbsttag Richtung Tal. Keine Spur vom tosenden Sturzbach, der 2005 die Gemeinde Brienz im Berner Oberland verwüstete. «Kaum zu glauben, dass hier alles überschwemmt war», sagt Anton Burgener, Direktor der Glückskette, und schüttelt den Kopf. Sollte der Bach nochmals solche Wassermassen mit sich führen, könnte nun jedoch das Schlimmste verhindert werden. Ein natürlicher Schutzwall steht jetzt da, wo damals das Wasser freien Lauf hatte. Die Wiese hinter dem Schutzwall würde als Auffangbecken dienen und die Wassermassen abfangen. Die Glückskette hat das Projekt mit 1,1 Millionen Franken unterstützt.

LINK: Damals hat die Glückskette 49,5 Millionen Franken gesammelt. Zeigen sich die Leute bei Katastrophen in der Schweiz besonders spendebereit?
Anton Burgener: Wenn etwas in der Nähe passiert, dann ist die Betroffenheit gross und es wird viel gespendet. 2005 sind Schäden von mehr als einer Milliarde Franken entstanden. Brienz war besonders stark verwüstet. Deshalb hat die Glückskette den Bau des Schutzwalls unterstützt. Doch auch die Erwartungen sind bei Naturkatastrophen in der Schweiz gross.

«Wenn etwas in der Nähe passiert, dann ist die Betroffenheit gross und es wird viel gespendet.»

Inwiefern?
Wenn es hier ein Unwetter gibt, wird oftmals gefragt, weshalb die Glückskette nicht mehr helfe und nur fürs Ausland sammle. Aber in der Schweiz ist man mit den Leistungen der Versicherungen und der Unterstützung der öffentlichen Hand viel besser abgesichert als anderswo. So haben wir 2005 nicht alle Gelder gleich sofort eingesetzt, sondern einen Rest in einen Fonds einbezahlt. Da sind heute noch 3,5 Millionen Franken vorhanden, die wir im Falle eines Unwetters in der Schweiz einsetzen können.

«In der Schweiz ist man mit den Leistungen der Versicherungen und der Unterstützung der öffentlichen Hand viel besser abgesichert als anderswo.»

Der Grossteil der Spenden fliesst jedoch ins Ausland. Welche Katastrophen gehen den Schweizerinnen und Schweizern ­besonders nahe?
Eine Rekordspendensumme haben wir beim Tsunami im Jahr 2004 erreicht. 227 Millionen Franken sind da zusammengekommen. Ein Grund dafür war sicher, dass viele Schweizer Touristen betroffen waren. Zudem können sich die Leute bei Naturkatastrophen mit den Betroffenen identifizieren. Denn das könnte überall passieren. Und die vielen starken Bilder führen den Menschen hier das Elend vor Augen.

Auch von Kriegen gibt es Bilder, die ­bewegen.
Bei einem Krieg stellen sich manche die Schuldfrage. Das kann vielleicht erklären, weshalb dafür weniger gespendet wird. Als im vergangenen Herbst das Bild des toten syrischen Jungen in den sozialen Medien auftauchte, gingen bei uns jedoch viele Spenden für Menschen auf der Flucht ein.

Hat die Glückskette das Bild verwendet?
Nein, wir wollen nicht das Leid des Einzelnen ausschlachten. Aber es hat ja trotzdem jeder gesehen.

Welchen Einfluss hat die sich ver­ändernde Mediennutzung auf das Fund­raising?
Viele Leute sitzen heute nicht mehr um 19.30 Uhr vor dem Fernseher und warten auf einen Spendenaufruf der «Tagesschau»-Moderatorin. Die SRG ist auf den sozialen Medien sehr aktiv und da müssen wir uns einklinken. Auch die Glückskette ist zum Beispiel auf Facebook und Instagram präsent. Ein Quiz oder eine Fotoreportage kommt dort gut an. So können wir die Menschen sensibilisieren. Hingegen zeigen Spendenaufrufe über Facebook noch nicht die gewünschte Wirkung.

Ihren Anfang hatte die Glückskette vor 70 Jahren mit einer Radiosendung. Könnte eine solche Sendung heute noch funktionieren?
Die Sendung war damals ein voller Erfolg. Die beiden Moderatoren fuhren mit ihrem Wägeli zu den Leuten und haben mit Hilfe der Hörerinnen und Hörer Wünsche erfüllt. Wer einen Aufruf nach Hilfe besonders gut erfüllen konnte,


70 Jahre Glückskette - eine Reportage mit Geschichten, Fotos und Bewegtbildern aus dem Archiv der SRG


durfte die nächste gute Tat vorschlagen. Kinder aus England konnten beispielsweise so in der Schweiz Ferien machen. Eigentlich war das damals schon das, was man heute unter Social Media versteht. Die Sendung hat dem Publikum eine Plattform gegeben und es involviert. Heute funktioniert die humanitäre Hilfe ­jedoch ganz anders.

Was sind denn die grundlegenden Ver­änderungen?
Wir unterstützen die Leute nicht mehr mit Naturalien. Denn so werden Sachen gespendet, die gar nicht den Bedürfnissen vor Ort entsprechen. Deshalb sammelt die Glückskette heute Geld und nicht Güter. Zudem wird mit Geldspenden die lokale Wirtschaft unterstützt. Nur wenn die Märkte im Katastrophengebiet stillgelegt sind, braucht es Sachspenden.

«Wir unterstützen die Leute nicht mehr mit Naturalien. Denn so werden Sachen gespendet, die gar nicht den Bedürfnissen vor Ort entsprechen. Zudem wird mit Geldspenden die lokale Wirtschaft unterstützt»

Wie haben sich die Ansprüche an die ­humanitäre Hilfe verändert?
Die Ansprüche sind heute viel höher. Damit die Hilfe nachhaltig ist, müssen die Hilfswerke die lokale Bevölkerung viel mehr involvieren. Nach dem Erdbeben in Haiti 2010 wollte beispielsweise ein Partnerhilfswerk Fertighäuser aus Vietnam aufbauen. Diese hatten jedoch keine Veranda wie die haitianischen Häuser und waren qualitativ nicht gut. Erst haben sie nur wenige Testhäuser hingestellt und diese mit den Einheimischen angeschaut. Es wurde dann schnell klar, dass es eine andere Lösung brauchte.

Wie setzt sich die Glückskette für nachhaltige Projekte ein?
Im Ausland wenden wir ein Prozent der Spenden für die Auswertung der Projekte auf. Dazu schicken wir Experten ins Feld. So sind wir näher bei den Partnerhilfswerken und ermöglichen den Austausch der Hilfswerke untereinander. Die Glückskette ist heute mehr als nur ein Geldgeber und will etwas zur Entwicklung der humanitären Hilfe beitragen.

«Die Glückskette ist heute mehr als nur ein Geldgeber und will etwas zur Entwicklung der humanitären Hilfe beitragen.»

Wo sehen Sie die Zukunft der Glücks­kette?
Das Hauptziel ist, dass wir in Sachen Vertrauen und Glaubwürdigkeit das bleiben, was wir sind. Wir müssen uns also den ganzen Herausforderungen in der humanitären Hilfe und im Fundraising stellen. Zudem sehe ich in innovativen Projekten Potenzial. Wir werden mit den Partnerhilfswerken einen Workshop zum Einsatz von Drohnen in der Nothilfe machen. Diese können von abgeschnittenen Schadensregionen Fotos machen oder Hilfs­güter transportieren.

Text: Interview: Regina Schneeberger

Bild: Anton Burgener am Glyssibach, der 2005 die Gemeinde Brienz verwüstete. Bild: Peter Mosimann

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