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TV-Serien: «Eine erzählerische Revolution»

«Game of Thrones», «House of Cards» und «Breaking Bad» – Was ist das Geheimnis des jüngsten Serien-Booms? Die Fernsehwissenschaftlerin Ursula Ganz-Blättler beantwortet die wichtigsten Fragen.

LINK: Frau Ganz-Blättler, Sie sind als Film- und Fernsehwissenschaftlerin an der Tagung «Faszination Serien und Reihen» der SRG Zürich Schaffhausen zu Gast gewesen (siehe Kasten). Welche Serie fasziniert Sie selbst im Moment?
Ursula Ganz-Blättler: Diese Frage habe ich erwartet – und ich muss Sie leider enttäuschen: In den letzten zwei Jahren habe ich mich bewusst etwas zurückgezogen, weil ich an einem Buch über die Erinnerungen von Serienfiguren arbeite. Die These ist, dass durch die Ausgestaltung einer Figurenvergangenheit die Beziehung zwischen Serie und Publikum enger geknüpft wird. Man nennt das die «Backstory» – sie erlaubt jenem Teil des Publikums, der tiefer in die Serie und die Figurenbiografien eintauchen will, sich ausgiebiger mit der Figur zu beschäftigen.

Einer der Gründe, warum Serien eine ­derartige Popularität geniessen, sind die vielschichtigen Charaktere von Serien wie «Games of Thrones» oder «House of Cards». Teilen Sie die Einschätzung?
Es ist sicher ein Merkmal dieser sogenannten Quality Series, dass man die Autoren hinter der Geschichte stärker spürt. Diese Serien weisen Tendenzen hin zum Roman auf, wenn man so will: Die Figuren entwickeln sich stetig weiter. Aber das begann bereits früher. Schon in «Lost» oder «Grey's Anatomy» finden Sie komplexere zwischenmenschliche Beziehungsmuster, als sie davor in TV-Serien üblich waren. Was die Serien neuerer Anbieter wie Netflix auszeichnet, ist, dass sie als komplette Staffeln angeboten werden. Im Vergleich zu den klassischen Fernsehserien fallen die «Löcher» zwischen den einzelnen Episoden weg, in denen eine Serie situativ weiterentwickelt werden konnte

«Durch die Abonnementsgebühr fürs Bezahlfernsehen wurden auch die Erwartungen des Publikums an eine Serie grösser.»

Mittels Interaktion mit dem Publikum?
Ja. Die klassische Serie erzählt von Folge zu Folge eine in sich geschlossene Geschichte. Fällt sie beim Publikum durch, kann sie daher innerhalb einer Woche abgesägt werden. Die in der Regel wöchentliche Ausstrahlung einer Folge führt umgekehrt jedoch auch zu einer engeren Bindung des Publikums, weil es sich zwischen den Folgen aktiv mit der Serie beschäftigt. Früher in sogenannten Fanzines, heute im Internet. Vor allem bei Soap-Operas zeigt sich dieser Fan-Austausch sehr ausgeprägt. Bezahlsender wie HBO (US-amerikanischer Fernsehprogrammanbieter, Anm. der Red.) waren hier eine wichtige Neuerung: Weil das Publikum als Abonnent schon gegeben war und nicht mehr mit jeder Episode neu ­gewonnen werden musste, konnte man Serien staffelweise im Voraus gestalten – was das Format natürlich für Schauspieler wie Autoren interessanter machte.

HBO hat 1999 die Mafiaserie «The ­Sopranos» lanciert, die noch heute als Vorreiterin für die jüngsten Serienerfolge zitiert wird. War das die Zäsur?
Sie nennen die richtige Serie. Durch die Abonnementsgebühr fürs Bezahlfernsehen wurden auch die Erwartungen des Publikums an eine Serie grösser – es war nun eher möglich, Tabus zu brechen, was in den klassischen Fernsehstationen so nicht möglich war. «The Sopranos» hat das erstmals ausgeschöpft: Mehr Gewalt, zwielichtige Hauptfiguren oder die Reflexion von gesellschaftlich brennenden Themen. Ein anderes Beispiel ist «Sex and the City» – davon wurden jeweils zwei Versionen produziert, eine fürs Bezahlfernsehen und eine entschärfte Fassung für die restlichen Fernsehstationen. Die Wagnisse sind grösser geworden, erzählerisch haben Revolutionen stattgefunden.

Eine Entwicklung, die dank Video-on-­Demand – beispielsweise Netflix – noch gefördert wurde, oder?
Ja, aber entscheidend ist dabei nicht einmal die Technik, sondern Nebeneffekte wie der Streik von Drehbuchautoren Ende der 2000er Jahre. Dessen Folge war, dass die Autoren stärker Einfluss auf die Entwicklung von Serien nehmen konnten, beispielsweise bezüglich der Länge der Staffel.

«Kultserien mit entsprechenden Innovationen gab es schon vor dem Internet-TV, zum Beispiel die komplexen Beziehungskon­stellationen in ‹Dallas›.»

Die Abkoppelung von den Programmstrategien der TV-Stationen, die Länge oder Frequenz einer Serienfolge bestimmten, hat zu einer völlig neuen Freiheit geführt. Kultserien mit entsprechenden Innovationen gab es schon vor dem Internet-TV: die verschachtelte Erzählstruktur von «Twin Peaks», die komplexen Beziehungskonstellationen in «Dallas», die Reflexion von ­gesellschaftspolitischen Themen in «Star Trek».

Zeugt es von mangelndem Gedächtnis, wenn man heute von einem besonders hochwertigen Serienzeitalter spricht?
Dem würde ich zustimmen. Aber zweifellos ist der Boom da, die schiere ­Anzahl an hochwertigen Serien für verschiedene Zielpublika ist enorm. Ich sehe aber eher die Abfolge von Kontinuitäten als eine grosse Revolution, wobei die Möglichkeiten von Netflix schon einen kleinen Quantensprung darstellen.

Diesen Entwicklungen steht die Polizeiserie «Tatort» wie ein Dinosaurier gegenüber: Jeden Sonntagabend versammelt sich ein Millionenpublikum vor dem Fernseher für einen Krimi, dessen Grundmuster sich kaum verändert hat. Was ist das Geheimnis?
Diese treue Anbindung des Fernsehpublikums im Internet-Zeitalter gibt es nur noch bei zwei Genres: beim Krimi, dessen Fallstruktur stark mit konventionellen Erzählmustern und abgeschlossenen Einzelgeschichten verknüpft ist, und bei der oft belächelten Sitcom. Dort verfängt die ganze Debatte um Quality Series nicht. Sie widerstehen den jüngsten Entwicklungen und halten trotzdem ihr Publikum. Was den «Tatort» betrifft, so glaube ich, dass die regional verschiedenen Polizeiteams, die noch aus der Zeit der föderalistischen deutschen Landessender stammen, die Anbindung ­verstärkt. Aber auch die relativ lange Spielzeit der Episoden, die eine Psychologisierung der Figuren erlaubt und regelmässig kontroverse Themen aufgreift, macht die Serie zum Strassen­feger. Für den Moment funktioniert das gut – wie lange noch, da würde ich hingegen ein Fragezeichen setzen.

Text: Interview: Andreas Schneitter

Bild: Game of Thrones / HBO, Flickr


Ursula Ganz-Blättler ist Medienwissenschaftlerin und Lehrbeauftragte an der Universität St.Gallen.


«Faszination TV-Serien» – ein Seminar der SRG ZH SH

Was fasziniert so an TV-Serien und ­-Reihen? Anlässlich der 1000. «Tatort»-Folge Ende November stellte sich die Bildungskommission der SRG Zürich Schaffhausen diese Frage an einem ­Seminar für Mitglieder und Interessierte. Im Gespräch mit den Seminarteilnehmenden teilten Urs Fitze, Bereichsleiter Fiktion SRF, und Ursula Ganz-Blättler, Medienwissenschaftlerin, ihr Wissen über das Thema. Das LINK-Gespräch mit Ursula Ganz-Blätter entstand in diesem Zusammenhang. Die Bildungskommission der SRG Zürich Schaffhausen schreibt regelmässig ­Kurse und Veranstaltungen aus.


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