SRG Deutschschweiz Ombudsstelle

«Die letzten Zeugen: Der Holocaust und Antisemitismus heute» von «Club» beanstandet

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Mit Ihrer E-Mail vom 5. April 2018 beanstandeten Sie die Sendung «Club» (Fernsehen SRF) vom 3. April 2016, die dem Holocaust und dem aktuellen Antisemitismus gewidmet war.[1] Ihre Eingabe entspricht den formalen Anforderungen an eine Beanstandung. Ich kann folglich darauf eintreten.

A. Sie begründeten Ihre Beanstandung wie folgt:

«Ich möchte zum ersten Mal vom Recht auf eine Beschwerde beim Schweizer Fernsehen Gebrauch machen: Die Sendung ‹Club› vom Dienstag, 3. April (Die letzten Zeugen: Der Holocaust und Antisemitismus heute) war anstossend einseitig und tendenziös.

Sowohl in der Werbung zur Sendung, in der Einführung zur Sendung und während der Sendung ist die Ermordung der Holocaustüberlebenden Mireille Knoll in Paris als Aufhänger benutzt worden. In der Folge wurde über Antisemitismus diskutiert, jedoch wie gesagt sehr einseitig. Wichtig: Ich laste diese Einseitigkeit in keiner Weise den beiden Überlebenden Zeitzeugen an. Sie haben Ihre Sache sehr gut gemacht. Aber die so genannten Experten und die Moderatorin haben unverantwortlich viel ausgeblendet und verdreht. Ich sage das als Historiker und Geschichtslehrer an einem Schweizer Gymnasium.

Zuerst ist hier mal die Tatsache, dass Mireille Knoll, ähnlich wie andere Ermordete in letzter Zeit, dem islamistischen Antisemitismus zum Opfer fiel. Dies wurde in der Runde überhaupt nicht thematisiert. Im Gegenteil: Leute die auf die Gefahr des Islamismus für Europa und für die Juden hinweisen, wurden in der Runde als faschistoid und islamophob dargestellt. Was für eine Verdrehung! - und niemand widersprach!

Auch die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg ist sehr einseitig diskutiert worden. Die Gefahr seitens Deutschlands für die Schweiz wurde komplett ausgeblendet, ebenso die Schwierigkeit für die Schweiz nach dem Krieg, den Alliierten die Position der Schweiz zu erklären. In der Sendung wurde weitestgehend ausgeblendet, dass der Handlungsspielraum der Entscheidungsträger stark eingeschränkt war. Einseitig wurde das Lied von einer inhumanen, sich den Faschisten anbiedernden und verbohrten Schweiz gesungen. Das ist nicht nur falsch, sondern auch arrogant und bösartig! Zum Glück hat wenigstens der Historiker in der Runde (Spuhler) einmal, wenn auch sehr knapp, die vollkommen unzutreffende Aussage von Herrn Kugelmann zurückgewiesen, in den Schulen würde das Thema Holocaust und die Rolle der Schweiz (inklusive der verschiedenen Einzelfälle) zu wenig thematisiert. Mit Verlaub: Als Geschichtslehrer kann ich Ihnen versichern, dass kein anderes Thema in den Lehrplänen, in den Schulbüchern und auch in der Unterrichtspraxis derart viel Raum einnimmt wie eben diese Thematik!

Es ist mir schleierhaft, wie man es zulässt, dass dieses Thema derart oberflächlich und einseitig diskutiert wird. Es kann vor allem nicht sein, dass die Augen vor dem ismalistischen Antisemitismus derart verschlossen wurde, wenn doch der Anlass zur Sendung eindeutig eine islamistische Tat war!»

B. Die zuständige Redaktion erhielt Ihre Beanstandung zur Stellungnahme. Für die Sendung «Club» äußerten sich Frau Barbara Lüthi, Redaktionsleiterin und Moderatorin, sowie Frau Erika Burri, Produzentin, wie folgt:

«Wir sind an einer lebendigen Diskussionskultur nicht nur mit unseren Gästen interessiert, sondern auch mit unseren Zuschauern. Wir finden es deshalb wichtig, dass Sendungsinhalte reflektiert und kritisiert werden. Deshalb nehmen wir gerne Stellung zum vorliegenden Fall.

Herr X macht uns zusammengefasst zwei Hauptvorwürfe:

1. Wir hätten den ‹islamistischen Antisemitismus› zu wenig thematisiert. <Im Gegenteil>, schreibt der Beanstander: <Leute, die auf die Gefahr des Islamismus für Europa und für die Juden hinweisen, wurden in der Runde als faschistoid und islamophob dargestellt.>

2. Wir hätten die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg sehr einseitig diskutiert. <Die Gefahr seitens Deutschlands für die Schweiz wurde komplett ausgeblendet>, schreibt der Beanstander. Ebenso die Schwierigkeit für die Schweiz nach dem Krieg, den Alliierten die Position der Schweiz zu erklären. In der Sendung sei weitestgehend ausgeblendet worden, dass der Handlungsspielraum der Entscheidungsträger stark eingeschränkt war. <Einseitig wurde das Lied von einer inhumanen, sich den Faschisten anbiedernden und verbohrten Schweiz gesungen.>

Als Verantwortliche der Sendung möchten wir, bevor wir im Detail auf die Punkte eingehen, etwas Grundsätzliches zur Sendung sagen: Der ‹Club› ist eine Diskussionssendung, die wir unter Livebedingungen aufzeichnen. Wir schreiben weder unseren Gästen vor, was sie sagen sollen, noch schneiden wir im Nachhinein oder bearbeiten die Aufzeichnung. Die Sendung geht jeweils dienstags um 22.20 Uhr genauso über den Sender, wie wir sie ein paar Stunden vorher aufgezeichnet haben.

Als Sendungsmacherinnen müssen wir in Kauf nehmen, dass eine Diskussion ihre eigene Dynamik entwickelt. Und nicht immer verläuft es so wie geplant. Doch nun zu den Vorwürfen:

1. Wir haben im Team vor der Sendung länger über verschiedene Formen von Antisemitismus diskutiert, auch über ‹islamistischen Antisemitismus›, wie ihn der Beanstander nennt. Wir haben dazu auch Zahlenmaterial gesucht. Es gibt, wie in der Sendung erwähnt, zu Antisemitismus in der Schweiz nur wenig Zahlenmaterial. Und dieses ist selbst innerhalb jüdischer Kreise umstritten. Zu Antisemitismus aus muslimisch-extremistischen Kreisen werden in der Schweiz keine Zahlen erhoben.

Auch wir hatten vor, in der Sendung auf Antisemitismus aus muslimisch-extremistischen Kreisen einzugehen. Unsere Gäste haben jedoch diese Art von Antisemitismus nicht explizit erwähnt.

Doch auch wir (Erika Burri als Produzentin und Barbara Lüthi als Moderatorin) waren nach der Sendung der Meinung, dass die Moderatorin explizit hätte nachhaken sollen. Auch wir empfanden dies als verpasste Chance.

Handkehrum muss man sagen: Als Macherinnen einer Schweizer Sendung müssen wir aufpassen, dass wir gesellschaftspolitische Brennpunkte in unseren Nachbarländern nicht ohne Reflexion übernehmen und einschweizern. Muslimisch-extremistisch motivierter Antisemitismus scheint in der Schweiz tatsächlich bisher ein starkes Randphänomen zu sein. Die jüdische Gemeinschaft in der Schweiz ist davon nicht mehr betroffen als von anderen Formen von Antisemitismus, vermutlich eher weniger.

Beim Mord an Mireille Knoll gehen die Behörden davon aus, dass er zwar antisemitisch motiviert war. Jedoch handelt es sich beim Täter offenbar nicht um einen Islamisten, sondern mehr um einen Mann mit starken psychischen Problemen und Vorstrafen. Von ‹islamistischem Antisemitismus› ist in diesem Fall nicht die Rede.[2]

Wir weisen entschieden von uns, dass Leute, die auf die Gefahr des Islamismus für Europa und für die Juden hinweisen würden, in der Runde als faschistoid und islamophob dargestellt worden seien. Wir haben uns die Sendung nochmals angeschaut und wir konnten dazu keine Aussagen finden. Es wurde aber von mehreren Gästen darauf hingewiesen, dass gewisse Parteien in Europa gezielt wieder mit dem ‹Ausgrenzen von Fremden› politisieren. Sie halten dies für bedenklich.

2. Die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg war nicht unser Thema, sondern ihre Aufarbeitung im Bezug auf Flüchtlinge. Im Moment Handeln und sein Handeln später bewerten, diskutieren und kritisieren sind zwei verschiedene Dinge. In der Schweiz, war sich die Runde einig, hat spätestens in den 90er-Jahren eine Aufarbeitung stattgefunden, wenn auch auf Druck von aussen: Die unabhängige Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg wurde 1996 gegründet, die so genannte Bergier-Kommission. Am 22. März 2002 erfolgte der Schlussbericht.

Wir haben in der Sendung unter anderem danach gefragt: Wieso hat das so lange gedauert? Wieso wurden Menschen wie der Filmemacher Markus Imhoof (‹Das Boot ist voll›) noch 1980 als Nestbeschmutzer beschimpft? Das Engagement von Carl Lutz, der viele tausend Juden in Budapest das Leben gerettet hatte, wurde Zeit seines Lebens von der offiziellen Schweiz nie anerkannt. Wieso? Was war das für ein Klima in der Schweiz nach dem Zweiten Weltkrieg? Und: Wie soll man sich überhaupt erinnern, vor allem, wenn die Zeitzeugen nicht mehr leben?

Wir gingen all diesen Fragen in der Sendung auf den Grund und wir glauben, dafür Antworten geliefert zu haben.

Der Beanstander wirft uns vor, einseitig das Lied von einer inhumanen, sich den Faschisten anbiedernden und verborten Schweiz gesungen zu haben. Auch diesen Vorwurf möchten wir in aller Deutlichkeit von uns weisen. Die Schweiz, das ist in weiten Kreisen unbestritten, brauchte eine Zeit, zum Teil länger als andere Länder, um ihren Umgang mit Flüchtlingen im Zeiten Weltkrieg aufzuarbeiten. Sie hat dies unter anderem auf Druck von aussen getan. Inzwischen wurden längst auch Personen wie Paul Grüninger[3] rehabilitiert. Und auch die Leistungen von Carl Lutz wurden nach seinem Tod anerkannt.

Der Holocaust-Überlebende Gabor Hirsch hat es in der Sendung gesagt: Er habe in der Schweiz nie Antisemitismus erlebt. Er hätte hier ein Zuhause gefunden. Auch Yves Kugelmann sagte, dass Juden hier ihre Religion frei leben könnten. Das ist unserer Meinung nach kein Bild einer ‹inhumanen, faschistoiden Schweiz›. Im Gegenteil.

Wir hoffen, Herr Ombudsmann, Ihnen mit unseren Ausführungen genügend Gründe geliefert zu haben, die Beanstandung abzulehnen.»

C. Damit komme ich zu meiner eigenen Bewertung der Sendung. Der Holocaust ist eines der schlimmsten Verbrechen der Menschheitsgeschichte. Die systematische, geradezu industrielle Ausrottung der Juden, der eine längere Phase der Ausgrenzung, Degradierung, Verhöhnung und Isolierung vorausging, findet nichts Vergleichbares in Europa. Sie war etwas vom Entsetzlichsten, was man sich vorstellen kann. Die Deutschen waren dabei nicht allein die Täter, Helfer, Mitläufer oder Weggucker, sondern viele Österreicher, Italiener, Franzosen, Ungarn, Ukrainer, Letten und Angehörige anderer Nationen halfen aktiv mit; andere ließen es zu, auch die Schweizer oder der Vatikan. Dieser Massenmord muss deshalb ewige Mahnung sein, dass Antisemitismus nie mehr hochkommen darf; dass es keinen auch nur winzigen Grund gibt, Juden wegen ihrer religiösen oder ethnischen Zugehörigkeit zu diskriminieren; dass Rassismus aus unserem Denken, Fühlen und Handeln verbannt werden muss.

Es war sicher richtig, dass der «Club» nach der Ermordung einer Holocaust-Überlebenden in Paris zwei Personen, die zu den letzten Zeugen des Holocaust gehören, in die Sendung einlud: Gábor Hirsch[4], der als Kind in Auschwitz-Birkenau war, und Agnes Hirschi[5], die in Budapest durch den Schweizer Diplomaten Carl Lutz[6] gerettet wurde. Ihre Schilderungen waren eindrücklich, weil sie so abgeklärt-nüchtern waren.

Sie haben Recht, dass es heute islamistischen Antisemitismus gibt. Es gibt ihn in Palästina, wo Aktivisten nicht einfach die israelische Besatzungsmacht bekämpfen, sondern regelrecht Juden jagen. Er ist Teil der Propaganda des iranischen Mullah-Regimes. Er wird überhaupt in arabischen und islamischen Ländern geschürt, um die Unzulässigkeit des Staates Israel zu begründen. Es gibt ihn in Europa. Parallel zum Massaker bei «Charlie Hebdo» griffen Terroristen in Paris einen jüdischen Supermarkt an. Oder in Berlin: In vielen Schulen werden jüdische Kinder durch muslimische Schülerinnen und Schüler geplagt, gehetzt, gequält, verhöhnt.[7] Es wäre verwunderlich, wenn man Gleichartiges nicht auch in der Schweiz fände. Auch wenn dieser Aspekt des heutigen Antisemitismus für die Fragestellung nicht zentral war, hätte er mehr Aufmerksamkeit verdient. Er kam in der Sendung zu wenig zum Zug. Da hätte die Moderatorin in der Tat noch stärker nachfragen, beharren müssen.

Gleichzeitig fällt aber auch der Antiislamismus, den vor allem rechtspopulistische Parteien in Europa lautstark propagieren und so als unbedenklich, ja notwendig hinstellen, unter den Rassismus. Es ist ebenso gemein, Menschen allein deswegen zu diskriminieren, weil sie Muslime sind.

Es war logisch, dass im Zusammenhang mit dem Holocaust auch die Rolle der Schweiz zur Zeit der nationalsozialistischen Diktatur behandelt wurde. Ich kann bestätigen, dass Nationalsozialismus und Holocaust an den Schweizer Schulen sehr wohl gründlich behandelt werden, und zwar schon lange. Da war die Einschätzung der Runde, vor allem durch Ives Kugelmann, nicht gerecht. Es gibt die entsprechenden Schulbücher, und es gibt die Lehrer, die – wie Sie – sich dafür engagieren, dass diese Epoche im Schulunterricht nicht fehlt.

Wahr ist allerdings auch, dass die Zeitgeschichte in der Schweiz zu wenig im öffentlichen Bewusstsein ist und zu wenig diskutiert wird.[8] Es gibt zwar Lehrstühle für Zeitgeschichte, es gibt die Historiker, Politologen und Soziologen, die sich um sie verdient gemacht haben – wie Erich Gruner, Peter Gilg, Georg Kreis, Klaus Urner, Hans-Ulrich Jost, Beatrice Messmer, Martin Schaffner, Urs Altermatt, Brigitte Studer, Kurt Imhof, Jakob Tanner, Thomas Maissen und noch einige dazu -, es gibt zeithistorische Forschung, es gibt das «Archiv für Zeitgeschichte» an der ETH Zürich[9], das von Gregor Spuhler geleitet wird. Aber es gibt beispielsweise kein «Museum für Zeitgeschichte», vor allem keines, das die Geschichte der Kriegs- und Nachkriegszeit umfassend dokumentiert. «Zeitgeschichte» kann ja verschieden definiert und periodisiert werden: Die Franzosen lassen die «Histoire contemporaine» 1789 beginnen, die Deutschen verstehen darunter die Geschichte vom Beginn des 20. Jahrhunderts an[10], die Schweizer lassen Zeitgeschichte im weiteren Sinn 1848 starten und im engeren Sinn als Geschichte der «Erlebnisgeneration» gelten. Gerade die Zeit des Nationalsozialismus und die Rolle, die die Schweiz dabei spielte, ist nicht wirklich in den öffentlichen Diskurs eingedrungen.

Denn die offizielle Aufarbeitung begann durchaus früh, wenn auch zunächst aus behördlich-defensiver Absicht. So liess der Bundesrat unmittelbar nach Kriegsende die «antidemokratischen Umtriebe» (Motion Boerlin) untersuchen. Er liess durch den Journalisten Hans Nef die Pressepolitik dokumentieren[11], der aber zu einem viel konformeren Befund gelangte als der Medienwissenschaftler Karl Weber, der seine kritischere Version publiziert hatte.[12] Und der Bundesrat beauftragte 1954 den Basler Rechtsprofessor Carl Ludwig, die Flüchtlingspolitik zu untersuchen, was dieser akribisch tat in seinem 1957 publizierten, umfangreichen Bericht.[13] Er hielt sich mit Kommentaren weitgehend zurück, zeigte indes, dass man in der Schweiz über die Verfolgung und Vernichtung der Juden voll im Bild war, dass aber die Juden nicht als politisch Verfolgte galten. Und er schrieb: «Auf der anderen Seite aber kann kein Zweifel darüber bestehen, dass eine weniger zurückhaltende Zulassungspolitik unzählige Verfolgte vor der Vernichtung bewahrt hätte».[14] Alt-Bundesrat Eduard von Steiger erhielt die Möglichkeit einer Kommentierung und Entgegnung. Er behauptete, er selber sei eigentlich immer dagegen gewesen, dass Juden nicht als politische Flüchtlinge anerkannt werden, habe es aber als gegeben hingenommen. Und er behauptete, man habe von der Vernichtung der Juden nichts gewusst, außerdem sei man nie sicher gewesen, ob entsprechende Berichte nicht Kriegspropaganda oder Gerüchte waren.[15] Die Arroganz ist unglaublich.

Der Bundesrat erteilte schliesslich dem Basler Geschichtsprofessor Edgar Bonjour den Auftrag, die schweizerische Außenpolitik während der Nazizeit umfassend zu analysieren, und er öffnete ihm alle Archive. Bevor sein Bericht erschien, waren es Nonkonforme, Linksintellektuelle und Betroffene, die den öffentlichen Diskurs befruchteten, etwa 1962 Jon Kimche mit «General Guisans Zweifrontenkrieg»[16], 1965 Alice Meyer mit «Anpassung oder Widerstand»[17] und 1966 Alfred Häsler mit «Das Boot ist voll»[18]. Wahrscheinlich wurde in den sechziger Jahren am stärksten öffentlich diskutiert.

Dann erschien der «Bonjour»-Bericht, der aber so umfänglich war, dass ihn kaum jemand wirklich las.[19] Erst der Druck durch die internationalen jüdischen Organisationen und durch die USA in den neunziger Jahren brachte die öffentliche Debatte wieder in Gang. Aber der Bericht der Bergier-Kommission[20] mit allen Zusatzberichten wurde kaum zur Kenntnis genommen, nicht einmal vom Bundesrat, geschweige denn von der Öffentlichkeit.

Dabei ging es immer um die gleichen Fragen: Wie stark hat die neutrale Schweiz mit dem nationalsozialistischen Deutschland kollaboriert? Wie sehr hat sie sich das Privileg, vor Angriff, Krieg, Besetzung, Versklavung und Terror verschont worden zu sein, erkauft? Wie wichtig war der Widerstandswille der Armee und der Bevölkerung? Wie rassistisch war letztlich die schweizerische Außenpolitik, indem sie die eigene Bevölkerung rettete und die Juden opferte?

Es war sicher richtig, dass der «Club» angesichts der Ausgangslage und Themenstellung – Mord an einer Holocaus-Überlebenden in Paris, Präsenz von Holocaust-Überlebenden in der Sendung – die Diskussion auf die Schweizer Flüchtlingspolitik konzentrierte und nicht das ganze Fass aufmachte. Man darf aber psychologisch nie unterschätzen, dass die Aktivdienstgeneration der Schweiz auf ihrer Leistung beharrte und nicht akzeptieren wollte, dass die Armee für die relative Unabhängigkeit des Landes nur eine bescheidene Rolle spielte. Jedenfalls hat der «Club» in diesem Teil der Diskussion die Rolle der Schweiz keineswegs einseitig dargestellt.

Kommt dazu, dass die Programmautonomie dem Fernsehen das Recht gibt, frei ein Thema zu wählen, aber auch darüber zu bestimmen, aus welcher Perspektive ein Thema behandelt wird. Das Bundesgericht stellt zudem an Diskussionssendungen weniger hohe Anforderungen als an Informationssendungen, weil es die Redaktion nicht in der Hand hat, bestimmte Äusserungen der Gäste zu bestellen oder zu verhindern. Eine Diskussionssendung verstößt daher nur dann gegen das Sachgerechtigkeitsgebot, wenn ein zentraler Aspekt eines Themas ausgeblendet wird und wenn das Publikum dadurch manipuliert wird, sich also nicht mehr frei eine eigene Meinung bilden konnte. Das war in dieser Sendung nicht der Fall. Deshalb kann ich Ihre Beanstandung formal nicht unterstützen. Ich bin jedoch mit Ihnen der Meinung, dass der Aspekt des islamistischen Antisemitismus durchaus noch etwas mehr Aufmerksamkeit verdient hätte.

D. Diese Stellungnahme ist mein Schlussbericht gemäß Art. 93 Abs. 3 des Radio- und Fernsehgesetzes. Über die Möglichkeit einer Beschwerde an die Unabhängige Beschwerdeinstanz für Radio- und Fernsehen (UBI) orientiert die beigelegte Rechtsbelehrung. Für Nachfragen stehe ich gerne zur Verfügung.


[1] https://www.srf.ch/sendungen/club/die-letzten-zeugen-der-holocaust-und-antisemitismus-heute

[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Mireille_Knoll

[3] https://de.wikipedia.org/wiki/Paul_Grüninger

[4] https://www.jewiki.net/wiki/Gábor_Hirsch

[5] https://www.infosperber.ch/Gesellschaft/Agnes-Hirschi-Stieftochter-des-Juden-Retters-Carl-Lutz

[6] http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D14866.php

[7] Vgl. „Süddeutsche Zeitung“, 8. Juni 2017: „Weil du Jude bist“.

[8] http://docupedia.de/zg/Schweiz_-_Die_Geburt_der_Zeitgeschichte_aus_dem_Geist_der_Krise

[9] https://www.afz.ethz.ch/

[10] http://www.ifz-muenchen.de/das-institut/

[11] Bericht des Bundesrates an die Bundesversammlung über die schweizerische Pressepolitik im Zusammenhang mit dem Kriegsgeschehen 1939-1945 (vom 27. Dezember 1946; Bericht Nef); http://www.amtsdruckschriften.bar.admin.ch/viewOrigDoc.do?id=10035749&action=open

[12] Weber, Karl (1948): Die Schweiz im Nervenkrieg. Aufgabe und Haltung der Schweizer Presse in der Krisen- und Kriegszeit 1933-1945. Bern: Lang.

[13] http://www.thata.net/ludwigberichtzuchfluechtlingspolitik1957dtvollst.pdf

[14] S. 372.

[15] S. 380

[16] Kimche, Jon (1962): General Guisans Zweifrontenkrieg. Die Schweiz zwischen 1939 und 1945. Berlin: Ullstein.

[17] Meyer, Alice (1965): Anpassung oder Widerstand. Die Schweiz zur Zeit des deutschen Nationalsozialismus. Frauenfeld: Huber.

[18] Häsler, Alfred AA. (1966): Das Boot ist voll. Die Schweiz und die Flüchtlinge 1933-1945. Zürich: Ex Libris.

[19] Bonjour, Edgar (1967-1970): Geschichte der schweizerischen Neutralität. Vier Jahrhunderte eidgenössischer Aussenpolitik. Bd. III: 1930-1939, Bd. IV-VI: 1939-1945.

[20] https://www.uek.ch/de/ ; https://www.uek.ch/de/schlussbericht/synthese/uekd.pdf

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