Yves Kilchör steht im Nachrichtenstudio am Mikrofon und liest seinen Gesprächspart vor
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«Ich will nicht etwas Spezielles sein»

Er ist der erste sehbehinderte Redaktor im neuen News- und Sportcenter von SRF – und er möchte nicht der einzige bleiben. Yves Kilchör arbeitet seit Februar 2022 im Team von Radio SRF 4 News. SRG Insider hat ihn bei einem News-Dienst begleitet und mehr über seinen barrierefreien Joballtag erfahren.

Seinen Blick hat er fokussiert auf den Screen gerichtet, währenddem hinter ihm eine Reinigungskraft gerade den Teppich saugt, sich der Redaktionskollege nebenan mit einer Moderatorin via Gegensprechanlage unterhält und der Drucker im Newsroom gut hörbar einige Blätter Papier ausspuckt. Es ist ein gewöhnlicher Dienstagmorgen in der Redaktion von Radio SRF 4 News. Redaktor und Produzent Yves Kilchör sitzt an seinem gewohnten Arbeitsplatz im Newsroom. Was dabei etwas gewöhnungsbedürftig erscheint: seine Bildschirmeinstellungen. Die Elemente und Symbole sind etwa dreimal so gross wie bei seinem Sitznachbarn. Die Farben sind invertiert eingestellt – also vertauscht. Und die Fenster bewegen sich derart schnell über den Desktop, dass manch andere Person leicht nervös werden würde. Nicht aber Yves. Denn was sich da auf seinem Monitor abspielt, nimmt er vor allem über seine Kopfhörer wahr.

«Wir haben alle unsere eigenen Bedürfnisse bei der Arbeit. Bei Leuten, die wie ich nicht so gut sehen, äussert sich das einfach krasser.»

Yves Kilchör, Produzent und Redaktor SRF 4 News

Plötzlich lehnt er sich auf seinem Bürostuhl nach vorne, zieht den Bildschirm näher an sein Gesicht, bis er diesen mit der Nase fast berührt. Aus dieser knappen Distanz entziffert er etwas auf dem Monitor. Und bewegt ihn schliesslich wieder zurück in die ursprüngliche Position. Das sei der einzige Arbeitsplatz im Newsroom mit einem schwenkbaren Screen, erzählt Yves. Deshalb setze er sich – wenn möglich – immer hierhin.

Zusätzliche Recherchearbeit

Dann schiebt er eine Seite seines Headsets vom Ohr weg und fragt in die Runde: «War es nur ein Bild, das man gesehen hat? Und deswegen machen wir so eine Sache daraus?» Es ertönt Gelächter. «Sehende Menschen sind schon sehr einfach gestrickt. Ein Bild und es wird gleich eine ganze Morgen-Primetime auf fünf Sendern gefüllt», meint er neckisch zu seinen Redaktionskolleginnen und -kollegen. Yves ist an diesem Tag für den Nachrichtencheck auf Radio SRF Virus verantwortlich, der in Form eines Livegesprächs während der Hauptsendezeit ausgestrahlt wird. Thema des Gesprächs: das erste farbige Bild, das die NASA vom James-Webb-Weltraumteleskop veröffentlicht hat. Ein Bild, von dem Yves aufgrund seiner Sehbehinderung nur etwa zwei Prozent optisch wahrnimmt. Die restlichen 98 Prozent des Bildinhalts mit den entsprechenden Zusammenhängen eignet er sich durch Recherche an. Und er ist sich keinesfalls zu schade, nachzufragen, wenn er etwas nicht versteht: «Das ist mein Plus als Journalist, ich darf meine Fragen stellen. So kann ich den Hörerinnen und Hörern auch andere Informationen vermitteln.»

Beim Sender wird in den Nachrichten viel über die Welt gesprochen und über Länder, in denen Yves selber noch nie war. «Klar, kann ich mir die Welt vorstellen. Ich habe auch ein inneres Bild von der Welt. Manchmal merke ich im Job aber, dass mir die Bilder dazu fehlen.» Eine grosse Karte oder einen Plan im Ganzen zu begreifen, sei für ihn kaum möglich. Deshalb ist er für die geografi sche und räumliche Einordnung jeweils auf die Hilfe seiner sehenden Arbeitsgspänli angewiesen. Und diese Unterstützung erhält er selbstverständlich: «Wir haben uns daran gewöhnt, dass Yves mehr über die Ohren arbeitet, was aber für Audiojournalistinnen und -journalisten Alltag ist», so Daniela Püntener, Redaktionsleiterin von SRF 4 News. Yves bezeichnet sich selbst übrigens auch weniger als Newsmenschen, sondern viel eher als Radiomacher.

Yves sitzt an seinem Arbeitsplatz im Newsroom und trägt Kopfhörer

Im Joballtag klappt es inzwischen so gut mit der Orientierung, dass Yves im Newsroom ohne seinen Blindenstock unterwegs ist. Er hat sich seine Arbeitsumgebung als Muster im Kopf abgespeichert. Das bewahrt ihn allerdings nicht davor, an diesem Vormittag im Flur vor den Aufnahmestudios in eine Glastür zu prallen. Ein Kollege will nur kurz beim Drucker etwas abholen – und hat nicht damit gerechnet, dass Yves just in diesem Moment auftaucht, als die offene Glastür in den Durchgang ragt. Murphy’s Law.

Barrierren mit viel Einsatz überwinden

Dass Yves nicht so gut sieht, spiele im redaktionellen Alltag keine Rolle mehr. Anfangs sorgte sich seine Vorgesetzte vor allem um die technischen Hürden: «Ich hatte das Gefühl, diese Barrieren können wir nicht überwinden, und war extrem erstaunt, was Yves zusammen mit unseren Technikerinnen und Technikern geschafft hat», erzählt Daniela. Die Systeme und Programme, die bei der Redaktion im Einsatz sind, wurden so angepasst, dass Yves nun damit arbeiten kann. Er hat auf seinem Laptop beispielsweise eine Sprachausgabe installiert und verwendet zusätzlich eine Braillezeile. Dabei handelt es sich um ein Gerät vor seiner Tastatur, mit dem er das Geschriebene anhand hervorstehender Punkte (Brailleschrift) ertasten kann. Die Braillezeile nimmt er jeweils auch mit ins Aufnahmestudio, um sich darauf seine Gesprächstexte anzeigen zu lassen. Denn auf Sendung den geschriebenen Text zu hören und gleichzeitig ins Mikrofon zu sprechen, ist für ihn schlicht nicht möglich.

Damit Yves selbstständig auf Sendung gehen kann, beinhaltet das Mischpult im Studio einen Knopf, der speziell auf seine Bedürfnisse zugeschnitten ist: «Da bin ich schon ein wenig stolz», gesteht er. Gleichzeitig bedauere er aber, dass er momentan der Einzige sei, der diesen Knopf nutze. «Jede Anpassung soll so gemacht werden, dass andere Menschen mit einer Sehbehinderung diese auch brauchen können. Der Yves-Knopf soll irgendwann beispielsweise auch der Fabienne-Knopf sein.» Dem stimmt auch Daniela zu. Sie wünscht sich, dass es zur Normalität wird, Menschen wie Yves in den Redaktionsalltag zu integrieren. Sie ist überzeugt: «Beim Thema Diversität lohnt es sich immer, die Extrameile zu gehen – egal welcher Art. Es ist nicht nur eine Bereicherung für das Team, sondern auch für die Inhalte und unser Programm.»


Text: SRG.D/Vera Gächter

Bild: SRG.D/Vera Gächter

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