Andrea Theunert: «Nicht alles Wirkliche ist wahr»

Für die neue Ausgabe unseres Mitgliedermagazins «LINK» erhält Andrea Theunert, Vizepräsidentin der SRG Basel die Carte Blanche: eine Kolumne über die individuelle Realität und die Rolle der Medien in einer Welt verschiedenster Wirklichkeiten.

Es gibt sie nicht, die eine Wirklichkeit. Die Psychologie lehrt uns, dass wir alle unsere eigene(n) Wirklichkeit(en) konstruieren. Selbst unsere Wahrnehmungen sind nicht Wahr-Nehmungen, sondern Schöpfungen und damit kreative Eigenleistungen.

Wenn Realität das ist, was jede und jeder Einzelne von uns als real erlebt, dann gibt es so viele Wirklichkeiten, wie es Menschen gibt. Was heisst das für die Aufgabe der Medien im Allgemeinen und der SRG im Speziellen mit ihrer Verpflichtung zur politischen und weltanschaulichen Neutralität? Ergibt sich daraus nicht gerade die Pflicht, alle möglichen Wirklichkeiten gleichwertig abzubilden, ohne sie zu werten oder zu beurteilen? Die Populisten und Fake-News-Propheten dieser Erde würden sich freuen. Denn die Auflösung des Wahren und des Wirklichen ins Beliebige ist ihre Strategie.

Die Stimme des Klimaforschers ist in dieser Optik gleich wirklich und damit gleich wahr wie die der Klimaleugnerin, die Perspektive des Stammtischs gleichwertig mit der der Forschung. Weil Extrempositionen aller Art Aufmerksamkeit und Quote garantieren, sind Medien gleichzeitig grossen Versuchungen ausgesetzt, Clickbaiting und Quotenjagd mit Rechtfertigungsakrobatik schönzureden. Dieser Versuch hat bloss einen entscheidenden Schönheitsfehler: Wirklichkeit und Wahrheit sind zwei verschiedene Dinge.

«Es ist gerade in Zeiten der Krise und der Verunsicherung die Aufgabe und die Pflicht der Medien, nicht einfach über alles zu berichten, was halt so passiert und was irgendwer pointiert in die Welt posaunt.»

Ja, auch Wahrheit ist konstruiert und gilt deshalb nicht absolut. Aber es gibt Massstäbe, auf die wir uns verständigt haben: Überprüfbarkeit, Logik und Wissenschaftlichkeit, beispielsweise. Es ist gerade in Zeiten der Krise und der Verunsicherung die Aufgabe und die Pflicht der Medien, nicht einfach über alles zu berichten, was halt so passiert und was irgendwer pointiert in die Welt posaunt. Das gibt es bereits auf TikTok und Co. Der Mehrwert, den Medien im Allgemeinen und die SRG im Speziellen bieten müssen, besteht darin, Geschehnisse, Meinungen und Ereignisse nach den Massstäben der Vernunft einzuordnen. Denn nicht alles, was wirklich ist, ist auch wahr.

Deshalb: Hüten wir das Wahre und wahren wir Distanz zur Beliebigkeit des Wirklichen! Genau das ist der Wert journalistischer Arbeit – und das, was sich die Menschen auch etwas kosten lassen.