Brauchen wir einen neuen Solidaritätsbegriff?

Solidarität ist ein Begriff, der im Zusammenhang mit dem Auftrag der SRG häufig verwendet wird. Doch was ist damit gemeint, und haben wir ein gemeinsames Verständnis davon? Ein Versuch eines neuen Solidaritätsbegriffs im Kontext des medienpolitischen Engagements der Trägerschaft SRG.D, von Niggi Ullrich, ehemaliger Präsident der SRG Region Basel.

Steckt im Begriff Solidarität ein Gefühl, eine humanistische Haltung, eine menschliche Attitüde, ein menschliches Leitprinzip, eine Sehnsucht nach Stabilität oder eine Verpflichtung? Ist Solidarität ein Grundrecht, oder meint der Terminus etwas, was mit «dem Ganzen» schlechthin zu tun hat und Zusammengehörigkeit postuliert? Schwer zu sagen. Umso mehr, als der Begriff immer wieder im Kontext des Service public der SRG verwendet wird. Kommt hinzu, dass die «Anwendung» des Ausdrucks in fast inflationär anmutender Frequenz öffentlich die Runde macht, obwohl sich die Gesellschaft immer eigennütziger, rabiater und inkohärenter gebärdet. Die Vermutung liegt durchaus nahe, dass mit dem Begriff etwas nicht (mehr) stimmt. Und erlaubt sei die Frage, ob die Trägerschaft der SRG bezüglich Solidarität einen zivilgesellschaftlichen Auftrag erfüllt oder eine selbstdefinierte Bestimmung hat.

Jahrelang war sie ein Fanclub mit Tradition, der sich die Werte des Service public auf die Fahnen geschrieben hat; in einer Zeit also, in der Qualität, Unabhängigkeit, Unverwechselbarkeit und /oder Swissness noch metaphorisch anmutenden Werten entsprachen … entsprechend auch «das» Publikum, «das» Volk und «das» (Familien)programm am Samstagabend. Wer Mitglied war, gehörte unverbrüchlich zu einer Art Gemeinschaft mit einem medial einheitlichen Auftrag für Radio und Fernsehen zur Förderung des schweizerischen Zusammenhalts.

«Das Private steht des Öfteren vor dem Gemeinsinn.»

Niggi Ulrich

Besagter Zusammenhalt ist (auch in der Schweiz) nicht mehr für die ganze Zivilgesellschaft conditio sine qua non. Inzwischen ist die in der Schweiz lebende Bevölkerung diverser – also unterschiedlich(er) – in allen Varianten geworden. Das Private steht des Öfteren vor dem Gemeinsinn. La Suisse n’existe plus. Im Fokus steht die Vielfalt – «more of the same» – von allem und jeglichem, was nichts anderes bedeutet, als dass die Menschen mehr und immer noch mehr Unterschiede nicht nur aushalten, sondern in ihren Alltag integrieren müssen, ohne sich selber zu verlieren.

Gleichzeitig werden fast alle Denk- und Handlungsspielräume trotz aller Möglichkeiten von Mobilität und Flexibilität nicht nur enger, sondern sie werden auch als Einschränkung wahrgenommen, welche die (Mit)menschen einander gegenseitig auferlegen. Das geht nicht ohne zum Teil heftige Kontroversen aller Art mit Schlagworten wie Diversität, Kohäsion, Demokratie, Föderalismus, Toleranz … die alle nur noch zu dekontextualisierten Wörtern mit Ausrufezeichen (!!!) zu verkommen drohen.

Und nicht verwunderlich ist, dass dabei auch sublim die Frage erscheint, wo denn da noch Platz ist für die immer wieder eingeforderte freundeidgenössische und bewährte Solidarität? Abzulesen ist dies auch an der Zunahme der Programmbeanstandungen bei der Ombudsstelle der SRG.D. Diese bringen mehr und mehr persönliche, um nicht zu sagen explizit private Anliegen zum Ausdruck, die nur noch vage mit einem solidarisch-gesellschaftlichen Konsens im Kontext von Service public und Public Value in Einklang zu bringen sind.

Vor diesem Hintergrund stellt sich in der Trägerschaft der SRG.D die Frage nach der sprichwörtlichen «Solidarität» im Kontext einer mediengesellschaftlich gewollten und relevanten Funktion von SRF und seinem Programm künftig etwas anders. Wie wäre es, wenn wir Solidarität dahin gehend verstehen, dass ich anderen Menschen nicht nur helfe, sondern ihnen zugestehe, dass sie mir (m)eine Haltung zugestehen. Umgekehrt darf / kann ich erwarten, dass sie mir Dinge zugestehen, ohne dass es gleich zum Eklat kommt. Und so wäre es denn möglich, dass mit meiner Serafe-Gebührenzahlung nicht «mein» Programm, sondern das der anderen Menschen finanziert wird … und ich darf andererseits erwarten, dass es für andere Leute kein Problem (mehr) darstellt, wenn mit «ihren» Gebühren mein Programm und das der anderen im Lande finanziert wird. Somit könnte Solidarität ein Bewusstsein für gemeinsame Interessen, Ziele, Standards und Sympathien schärfen, das ein psychologisches Gefühl der generellen und individuellen Einheit von Gruppen ermöglicht. Solcherart definierte Solidarität lehnt den Einzelnen / die Einzelne oder das Einzelne nicht ab, betrachtet dafür den Einzelnen oder das Einzelne als Grundlage der Gesellschaft.

Damit so eine duale Sicht auf eine neue Art der Solidarität möglich ist, braucht es Zeit, Sensibilität und Sorgfalt vor Tempo. Skills, die leider zurzeit nicht unbedingt Konjunktur haben.

Text: Niggi Ulrich

Bild: SRG.D/

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