Spezialsendung zu den Wahlen in Russland von «10vor10» beanstandet II

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Mit Ihrer E-Mail vom 21. März 2018 beanstandeten Sie die Spezialsendung von «10 vor 10» (Fernsehen SRF) zur Präsidentenwahl in Russland vom 16. März 2018.[1] Ihre Eingabe entspricht den formalen Anforderungen an eine Beanstandung. Ich kann folglich darauf eintreten.

A. Sie begründeten Ihre Beanstandung wie folgt:

«Die Verniedlichung des russischen Sieges über die Nazikräfte an der Ostfront und des entsprechenden Verlustes an russischen Menschenleben ähnelt sehr stark der Holokaust-Verleugnung.

In beiden Fällen geht es um Millionen von Toten.» Im Übrigen verwiesen Sie auf den Brief, den Sie an den Pressesprecher der Botschaft der Russischen Föderation in der Schweiz geschrieben hatten, und Sie fügten diesen Brief vom 19. März 2018 bei. Er lautet:

«Sehr geehrter Herr Smirnov

Als Schweizer Bürger möchte ich mich bei Ihnen und dem russischen Volk entschuldigen für die die deplatzierten, taktlosen und beleidigenden Bemerkungen in der Sendung ‹10 vor 10› vom vergangenen Wochenende, mit denen Frau Susanne Wille in herablassendem Ton die Schulung russischer Jung-Soldaten kommentierte. Sie erklärte in etwa, dass in dieser Schulung dem russischen Sieg im 2. Weltkrieg zu viel Ehre erwiesen und zu grosse Bedeutung zugemessen werde, statt dass der zahlreichen Opfer des Krieges gedacht werde. Dabei hat doch die Geschichte gezeigt, dass Hitlers Nationalsozialismus nur dank diesem militärischen Sieg ein Ende fand. Diesem Sieg verdanken wir Schweizer, dass wir nicht in den nationalsozialistischen Strudel hineingerissen wurden. Für diesen Sieg gaben aber tausende Russen Leben und Blut her, während wir Schweizer verschont blieben. Und was machte Frau Wille letzten Freitag in ihrer Sendung? Sie missbrauchte die Gastfreundschaft Russlands, um von russischem Boden aus Russland negativ darzustellen, anstatt die Gelegenheit zu nutzen, um Dankbarkeit und Respekt zu zeigen.»

B. Die zuständige Redaktion erhielt Ihre Beanstandung zur Stellungnahme. Für «10 vor 10» antworteten Herr Christian Dütschler, Redaktionsleiter, und Frau Corinne Stöckli, Redaktorin, wie folgt:

«Herr X beanstandet den Beitrag ‹Schleichende Militarisierun in Russland› [2], den wir am 16. März 2018 ausgestrahlt haben. Der beanstandete Beitrag war integraler Bestandteil unserer Sondersendung zu den Wahlen in Russland, die sich aus verschiedenen Hintergrundberichten zur Situation in Russland und mehreren Live-Schaltungen nach Moskau zusammensetzte:

  • 1. Live-Schaltung: Welche Bedeutung haben die Wahlen für Putin?
  • Beitrag «Ein Wahlkampf, der überrascht – und auch nicht»: Obwohl andere Kandidaten als Putin keine Chance haben, kämpfen sie trotzdem. 10vor10 hat die Kandidatin Xenia Sobtschak, eine ehemalige Fernsehjournalistin, bei einem Wahlkampf-Auftritt besucht.
  • 2. Live-Schaltung: Wie fair ist der Wahlkampf tatsächlich?
  • Beitrag «Schleichende Militarisierung in Russland»: In Russland findet eine schleichende Militarisierung statt: Mit nachgestellten Kriegsszenen wird den Menschen von Russland das Bild einer Siegernation vermittelt, und in Putins Jugendarmee wird die junge Generation eingeschworen für den Kampf gegen die Feinde Russlands.
  • 3. Live-Schaltung: Womit hat die Welt zu rechnen?
  • Beitrag «Putins Rückhalt in der Bevölkerung»: Laut unabhängigen Umfragen stehen 80 Prozent der Russen hinter Putin. Die Gründe für das Phänomen des ewigen Präsidenten.
  • 4. Live-Schaltung: Wie konnte sich Putin in diesem System so lange an der Macht zu halten?
  • Beitrag «Eine Modernisierung mit Grossprojekten»: Trotz Sanktionen und Schwankungen des Ölpreises geht es der Wirtschaft besser als erwartet. Putin setzt hier auf staatliche Grossprojekte wie zum Beispiel die Fussball-WM oder eine Brücke zur Halbinsel Krim.
  • 5. Live-Schaltung: Putin wird Russland bis 2024 regieren können – was folgt dann?

Wir haben also umfassend über die anstehenden Wahlen in Russland berichtet und dabei verschiedene Themen aufgegriffen und vertieft.

Im beanstandeten Beitrag ‹Schleichende Militarisierung in Russland› zeigten wir auf, wie die Gesellschaft in Russland unter Putin zunehmend militarisiert und eingeschworen wird gegen die Feinde Russlands. Der erste Teil des Beitrages spielte an einem Weltkriegs-Festival, wo Hobby-Soldaten historische Kriegsszenen nachspielten. Im zweiten Teil erfuhr das Publikum, wie Putin die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg zu einem zentralen Punkt seiner Politik macht. Der dritte Teil spielte am landesweiten Treffen von Putins Jugend-Armee, wo ein bekannter Regisseur den jungen Teilnehmern vermittelte, dass der Einmarsch der Russen in die Krim nicht die Ursache, sondern nur ein Vorwand für die westlichen Sanktionen sei. Im letzten Teil ging es nochmals um Putin, der in seiner Rede zur Lage der Nation eine Reihe neuer Waffensysteme präsentierte und Russland als nukleare Supermacht positionierte.

Der Beanstander ist nun der Meinung, dass der Beitrag ‹Schleichende Militarisierung in Russland› den Sieg Russlands im zweiten Weltkrieg zu wenig gewürdigt habe.

Wörtlich lautet die Passage im zweiten Teil des Beitrages:

Es war Wladimir Putin, der die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg zu einem zentralen Punkt seiner Politik machte. Unter ihm werden am 9. Mai, dem Tag des Sieges, wieder die Raketen aufgefahren. Der Sieg steht im Zentrum. Viel mehr als die Tragödie um die geschätzten zwanzig Millionen Toten und die schweren Fehler Stalins und der sowjetischen Armee-Führung. Wurde zu Jelzins Zeiten dem Kriegsende meist in der Familie gedacht, ist es inzwischen ein Massenphänomen.

Der Beanstander schreibt wörtlich: <Sie [Susanne Wille] erklärte in etwa, dass in dieser Schulung dem russischen Sieg im 2. Weltkrieg zu viel Ehre erwiesen und zu grosse Bedeutung zugemessen werde, statt dass der zahlreichen Opfer gedacht werde>. Zuerst eine formelle Anmerkung: Der obige Text stammt nicht von Susanne Wille, sondern vom Autor des Beitrags, Russland-Korrespondent Christof Franzen. Gesprochen wird er von einer professionellen Sprecherin. Dann eine inhaltliche Anmerkung: Anders als der Beanstander meint, gehört oben zitierter Text nicht zum Beitragsteil über die Schulung der Jugendlichen. Es stimmt also nicht, dass wir im Beitrag erklärt haben, dass in dieser Schulung dem russischen Sieg im Zweiten Weltkrieg zu viel Ehre erwiesen werde.

Hingegen ist es korrekt, dass wir festhalten, dass ‹der Sieg im Zentrum› steht, ‹viel mehr als die Tragödie um die geschätzten zwanzig Millionen Toten und die schweren Fehler Stalins und der sowjetischen Armeeführung›. Dazu möchten wir festhalten, dass wir im Beitrag nicht über den Zweiten Weltkrieg an sich berichtet haben, sondern über die Art und Weise, wie die Erinnerung daran begangen wird. Unter anderem mit immer pompöseren Feiern am 9. Mai. Es ging uns keineswegs darum, die Bedeutung des Sieges zu schmälern. Selbstverständlich hat SRF anlässlich des ‹Tags des Sieges› immer wieder über den Sieg berichtet.

Im beanstandeten Beitrag zeigten wir aber auf, wie die Machthaber in Russland die Geschichte für politische Zwecke zunehmend instrumentalisieren und unliebsame Aspekte wie eben ‹die Tragödie um die geschätzten zwanzig Millionen Toten und die schweren Fehler Stalins und der sowjetischen Armee-Führung› in den Hintergrund rücken.

Diese Tatsache bestätigen zahlreiche Beobachter. Als Beispiel ein Ausschnitt aus ‹Das Putin-Syndikat› von der österreichischen Politikwissenschaftlerin Margareta Mommsen, emeritierte Professorin an der Ludwig-Maximilians-Universität in München:

<In den letzten Jahren wurde immer deutlicher, dass man mittlerweile die Geschichte aus der Wissenschaft herausgeholt und in die Propagandamaschine des Landes eingebaut hatte, um sie hier in den Dienst der Wiederbelebung des Nationalstolzes und zugleich der politischen Legitimierung zu stellen.

(...)

Der mit Stalin verbundene Siegesmythos im Zweiten Weltkrieg musste allerdings unbedingt aufrechterhalten werden. Dahinter trat der stalinistische Terror im eigenen Land zurück. Dass der Sieg über Hitlerdeutschland der zentrale Gründungsmythos für das neue postsowjetische Russland blieb, wurde bei den überbordenden Feierlichkeiten anlässlich des ‘Siegestages’ zum 70. Jahrestag im Jahr 2015 besonders nachvollziehbar.>

Ähnlich klingt es auch im Artikel ‘Russland feiert seine Kriegsgeschichte’ in der NZZ vom 17. Mai 2015[3]

Als Journalisten ist es nicht unsere Aufgabe ‹Dankbarkeit und Respekt› zu zeigen wie der Beanstander meint, sondern gegenüber den Machthabern eine kritische Haltung einzunehmen. Gerade wenn es um die Wahl eines der mächtigsten Präsidenten im grössten Land der Welt geht, deren Ausgang schon vorher feststeht, weil nämlich jegliche missliebige Konkurrenz über die Jahre hinweg ausgeschaltet worden ist, dann scheint uns eine kritische Haltung von besonderer Bedeutung. Eine kritische Berichterstattung nennt die Dinge beim Namen, verzichtet aber auf ‹taktlose und beleidigende Bemerkungen›. Anders als der Beanstander können wir solche im beanstandeten Beitrag nicht erkennen.

Auch den Vergleich des Beanstanders mit der Holocaust-Verleugnung können wir absolut nicht nachvollziehen. Er schreibt: <Die Verniedlichung des russischen Sieges über die Nazikräfte an der Ostfront und des entsprechenden Verlustes an russischen Menschenleben ähnelt sehr stark der Holokaust-Verleugnung.> Einerseits haben wir den Sieg in keiner Weise verniedlicht. Andererseits haben wir darauf hingewiesen, dass es eben gerade die aktuelle Regierung in Russland ist, welche die <geschätzten zwanzig Millionen Toten und die schweren Fehler Stalins und der sowjetischen Armee-Führung> in den Hintergrund rückt. Von einer Verleugnung des ‹Verlustes an russischen Menschenleben› auf unserer Seite kann also keine Rede sein.

Zusammenfassend sind wir der Meinung, dass wir sachgerecht und differenziert berichtet haben. Als Journalisten ist es unsere Aufgabe, eine kritische Haltung den Mächtigen gegenüber einzunehmen, in der aktuellen politischen Situation Russlands ist dies sogar von besonderer Bedeutung. Gleichzeitig haben wir in unserer Sondersendung auch Positives festgehalten und Putin mehrmals selber zu Wort kommen lassen. Das Publikum war jederzeit in der Lage, sich eine eigene Meinung zu bilden. Wir bitten Sie deshalb, die Beanstandung nicht zu unterstützen.»

C. Damit komme ich zu meiner eigenen Bewertung des Beitrags. Sie haben Recht, wenn Sie herausstreichen, dass der Wahn des Nationalsozialismus nur dank des militärischen Sieges der Sowjetunion ein Ende fand. Genauer: Die Amerikaner und Briten allein hätten Hitler nicht bodigen können, die Russen allein allerdings auch nicht. Es war indes von entscheidender Bedeutung, dass die Rote Armee nicht nur das eigene Land verteidigte, sondern bis nach Berlin vorstieß. Sie haben hingegen nicht Recht, wenn Sie schreiben: «Diesem Sieg (der Russen) verdanken wir Schweizer, dass wir nicht in den nationalsozialistischen Strudel hineingerissen wurden.» Als eine echte Gefahr bestand, dass deutsche Divisionen die Schweiz erobern, nämlich im Juni 1940, da war die Sowjetunion im geheimen Hitler-Stalin-Pakt noch mit dem nationalsozialistischen Deutschen Reich verbündet. Dass die Schweiz nicht angegriffen wurde, hat andere Gründen: Die Konzentration der Wehrmacht auf den Kampf mit Großbritannien, die Wichtigkeit der Verkehrswege durch die Schweiz, die Bedeutung der Schweizer Banken und die Nützlichkeit der Schweizer Rüstungsindustrie.

Der Beitrag im Rahmen der Spezialsendung von «10 vor 10» am Vorabend der russischen Präsidentenwahl, der zeigte, wie Stolz und Patriotismus das Verhältnis zur eigenen Kriegsgeschichte prägen und den Geist der Jugendarmee animieren, rechtfertigte es überhaupt nicht, Fernsehen SRF bei der russischen Botschaft anzuschwärzen. Der Beitrag zeichnete die schleichende Militarisierung der Gesellschaft nach, die von Putin offensichtlich gewollt ist. Daran war nichts taktlos, nichts beleidigend, nichts herablassend, nichts deplatziert, sondern es wird schlicht erzählt, was sich verändert hat in den letzten Jahren. Ich kann Ihre Beanstandung deshalb nicht unterstützen, und ich muss sagen, dass ich es peinlich und befremdend finde, wenn Sie Ihre Beanstandung via die russische Botschaft einreichen.

D. Diese Stellungnahme ist mein Schlussbericht gemäß Art. 93 Abs. 3 des Radio- und Fernsehgesetzes. Über die Möglichkeit einer Beschwerde an die Unabhängige Beschwerdeinstanz für Radio- und Fernsehen (UBI) orientiert die beigelegte Rechtsbelehrung. Für Nachfragen stehe ich gerne zur Verfügung.

[1] https://www.srf.ch/play/tv/10vor10/video/10vor10-vom-16-03-2018?id=a5fbfd71-20e9-4f3d-a9f0-35086dd58d5c&station=69e8ac16-4327-4af4-b873-fd5cd6e895a7

[2] https://www.srf.ch/play/tv/10vor10/video/schleichende-militarisierung-in-russland?id=f0dceb9b-9144-4d43-b07a-a8c6a61942b6&station=69e8ac16-4327-4af4-b873-fd5cd6e895a7

[3] https://www.nzz.ch/spezial/70-jahre-kriegsende/ein-alter-sieg-fuer-ein-neues-russland-1.18543115

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