SRG Deutschschweiz Ombudsstelle

Nichtberichterstattung über Amokfahrt in Toronto von «Tagesschau» beanstandet

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Mit Ihrer E-Mail vom 24. April 2018 haben Sie beanstandet, dass in der «Tagesschau» vom 24. April 2018 nicht über die Amokfahrt in Toronto vom Vortag berichtet wurde. Ihre Eingabe erfüllt die forma­len Voraussetzungen an eine Beanstandung. Somit kann ich auf sie eintreten.

A. Sie begründeten Ihre Beanstandung wie folgt:

In der Tagesschau vom 24. April 2018 wurde die Amokfahrt von Toronto mit keinem Wort erwähnt, obwohl diese tagesaktuellen Charakter hat und z.B. in RTL aktuell und der ARD–Tagesschau darüber berichtet worden ist. Stattdessen zeigte die Redaktion während rund der Hälfte der Sendezeit Hinter­grundberichte über Syrien und Jemen, welche in die Rundschau und nicht in die Tagesschau gehören.

Die Tagesschau kommt damit ihrem Informationsauftrag nicht nach.

B. Ihre Beanstandung wurde der zuständigen Redaktion zur Stellungnahme vorgelegt. Herr Franz Lustenberger, Redaktion «Tagesschau», schrieb:

Mit Mail vom 24. April hat Herr X eine Beanstandung gegen die Hauptausgabe der Ta­gesschau vom gleichen Abend eingereicht. Er kritisiert die Nicht-Berichterstattung über die Amokfahrt in Toronto vom Vortag. Hier der Link zur Hauptausgabe vom 24. April (ohne Meldung zu Toronto)[1]

Aktuelle Berichterstattung

Der Vorfall ereignete sich am Montag, 23. April Nachmittag (Ortszeit), respektive am Abend (MEZ). Am späteren Abend bestätigte sich das Ausmass der Amokfahrt. Dies geht beispielsweise aus der Eil­meldung der Nachrichtenagentur DPA von 22:50 Uhr hervor.

Toronto (dpa) Bei dem Vorfall mit einem Lieferwagen in der kanadischen Metropole Toronto sind neun Menschen getötet und 16 weitere verletzt worden. Das sagte ein Sprecher der Polizei am Mon­tag.[2]

Die Tagesschau hat in ihrer Nachtausgabe vom 23. April über die Amokfahrt in Toronto berichtet, also sehr aktuell und zeitnah. Diese Sendung ist nicht übers Internet abrufbar; daher im Folgenden die Ab­schrift des Wortlauts aus der Sendung:

Noch ist unklar, ob es ein Terroranschlag war.

((Karte))

In der kanadischen Stadt Toronto ist ein Lieferwagen in eine Gruppe von Fussgängern gerast.

((HD IN))

Dabei wurden neun Menschen getötet, 16 weitere Personen wurden verletzt. Der Fahrer konnte festgenommen werden, wie die Polizei mitteilte. Die Hintergründe sind bisher unklar, es sehe aber nach einer vorsätzlichen Tat aus, so die Ermittler vor Ort.

Die Amokfahrt war am Folgetag, am 24. April nochmals kurz Thema in der Tagesschau am Mittag (ab: 08:09)[3]

Hauptausgabe vom 24. April

Man kann sich immer fragen, welche Themen in eine Sendung gehören und welche nicht. RTL aktuell und ARD haben offenbar anders entschieden. Journalismus ist keine exakte Wissenschaft.

Die Tagesschau richtet sich nach den Kriterien der Aktualität und der Relevanz. Wichtiges Kriterium ist auch der «Schweiz-Bezug»; ist das Ereignis aus einem schweizerischen Blickwinkel von besonderer Bedeutung. Zudem versteht sich die Redaktion Tagesschau zunehmend in der Rolle, Erklärungen zu Ereignissen zu liefern, Zusammenhänge herzustellen und Hintergründe aufzuzeigen. Die Tagesschau ist nicht mehr die reine News-Vermittlerin wie vor dem Internet-Zeitalter. Was passiert ist, wissen die allermeisten Zuschauerinnen und Zuschauer schon vor 19.30 Uhr.

Die Amokfahrt in Toronto ist ein tragisches Ereignis, das emotional betroffen macht; sie war fast 24 Stunden nach dem Vorfall aber nicht mehr topaktuell. Die Amokfahrt stand nicht in einem Zusammen­hang mit einer Terrorgruppe, beispielsweise aus dem islamistischen Umfeld, wie die Behörden bestä­tigten: «S USPECT IN TORONTO VAN ATTACK NOT ASSOCIATED WITH ANY ORGANIZED TERROR GROUP - CBC TV CITING GOVT OFFICIALS».

Es hat seit dem Ereignis selber, respektive der Berichterstattung in der Tagesschau am Mittag keine Weiterentwicklung gegeben, die Kontinuität in der Berichterstattung erfordert hätte. Sosehr diese Ein­zeltat auch aufwühlt, von der Aktualität her war sie fast 24 Stunden alt und von der Relevanz her blieb sie eine Einzeltat ohne erkennbares Motiv und ohne Zusammenhang mit organisiertem Terror, wie etwa bei den vergleichbaren Anschlägen mit Fahrzeugen in Nizza oder in Berlin.

Auch der Schweiz-Bezug war nicht gegeben; wären Schweizer Bürgerinnen oder Bürger unter den Opfern gewesen, hätte die Tagesschau auch 24 Stunden nach der Tat darüber berichtet. Das mag zy­nisch klingen, ist aber auch ein realer Teil des heutigen und schnelllebigen Nachrichtengeschäftes.

Syrien und Jemen

Herr X kritisiert die Themensetzung der Hauptausgabe; er verweist dabei auf die ausführliche Be­richterstattung über Syrien und Jemen.

Wie oben schon erwähnt, schafft die Tagesschau in einer Zeit der schnellen News vermehrt Schwer­punkte, natürlich mit Bezug zur Aktualität. Ausgangspunkt der Syrien-Berichterstattung war die News (Recherche von RTS), dass eine Schweizer Unternehmung mit Genehmigung des Staatssekretariates für Wirtschaft (Seco) Chemikalien nach Syrien geliefert hat, die auch zur Herstellung von Giftgas ver­wendet werden können. Diese Meldung ist topaktuell und von höchster Relevanz. Auch die Geber­konferenz zu Syrien ist aktuell; die Finanzierung des späteren Wiederaufbaus ist von grösster Bedeu­tung, auch mit Blick auf eine spätere Befriedung des Landes und der gesamten Region.

Ergänzt werden diese sehr aktuellen und relevanten Themen mit zwei Beiträgen unserer Korrespon­denten. Zum einem mit einem Gespräch mit Jakob Kern, der in schwieriger Mission für die Ernährung der kriegsgeplagten Bevölkerung arbeitet und demnächst sein Amt abgibt. Zum zweiten mit einer Re­portage von Pascal Weber aus dem Bürgerkriegsland Jemen, das in der täglichen Berichterstattung oft vergessen geht.

Im Übrigen verweist die Redaktion Tagesschau auf die im Gesetz und in der Konzession verankerte Programmautonomie hin.

Fazit

Die Tagesschau hat aktuell und zeitnah über die Amokfahrt in Toronto berichtet.

Sie hat die relevante Aktualität (Chemie-Lieferung an Syrien, Geberkonferenz) mit zwei eigenen Bei­trägen (Gespräch und Reportage Jemen) ergänzt und vertieft.

Ich bitte Sie, die Beanstandung in diesem Sinne zu beantworten.

C. Damit komme ich zu meiner eigenen Bewertung. Die «Tagesschau» liefert dem Publikum einen Überblick über die wichtigen Ereignisse des Tages. Kriterien für die Themenwahl sind dabei Rele­vanz, Aktualität und Zuschauerinteresse[4]. Sie monieren in Ihrer Beanstandung, dass die «Tages­schau» ihrem Informationsauftrag nicht nachgekommen sei, weil sie am 24. April 2018 die Amokfahrt von Toronto vom Vortag nicht erwähnt hat. Herr Franz Lustenberger, Redaktion «Tagesschau» hat in seiner Stellungnahme aufgezeigt, dass SRF sehr wohl über die Amokfahrt berichtet hat, und zwar in der «Tagesschau Nacht»[5] vom 23. April 2018 sowie in der «Tagesschau» am Mittag[6] des 24. April 2018. Er hat ebenso klar und nachvollziehbar begründet, weshalb über die Amokfahrt in der Haupt­aus­gabe der «Tagesschau» vom 24. April 2018 nicht mehr berichtet wurde und weshalb andere, für die Schweiz zentral wichtige Themen im Zentrum der Sendung standen. Wie das Sendungsportrait der «Tages­schau» vorgibt, hat die «Tagesschau» an diesem Abend über die für das Schweizer Publi­kum rele­vanten und aktuellen Themen berichtet.

Ausserdem gilt die im Radio- und Fernsehgesetz verankerte Programmautonomie. Diese besagt in Art. 6 Abs. 2, dass die Programmveranstalter in der Gestaltung, namentlich in der Wahl der The­men, der inhaltlichen Bearbeitung und der Darstellung ihrer redaktionellen Publikationen frei sind und dafür die Verantwortung tragen.[7]

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die «Tagesschau» das Publikum zeitnah und sach­gerecht informiert hat; ihren Informationsauftrag hat sie wahrgenommen.

Aus dem Gesagten ergibt sich, dass ich Ihre Beanstandung nicht unterstützen kann.

D. Diese Stellungnahme ist mein Schlussbericht gemäß Art. 93 Abs. 3 des Radio- und Fernseh­gesetzes. Über die Möglichkeit einer Beschwerde an die Unabhängige Beschwerdeinstanz für Radio- und Fernsehen (UBI) orientiert die beigelegte Rechtsbelehrung. Für Nachfragen stehe ich gerne zur Verfügung.


Manfred Pfiffner
Stellvertretender Ombudsmann


[1] https://www.srf.ch/play/tv/tagesschau/video/tagesschau-vom-24-04-2018-1930?id=fc193a88-2df5-477c-b7a0-fde0a542343e

[2] dpa jot xx n1 hme, (DPA) - erd401, 23.04.2018 22:50 Uhr

[3] https://www.srf.ch/play/tv/tagesschau-am-mittag/video/tagesschau-vom-24-04-2018-1245?id=2aa69b54-3948-484d-9e07-8bf3841038ab

[4] https://www.srf.ch/sendungen/tagesschau/sendungsportraet

[5] Online nicht verfügbar

[6] https://www.srf.ch/play/tv/tagesschau-am-mittag/video/tagesschau-vom-24-04-2018-1245?id=2aa69b54-3948-484d-9e07-8bf3841038ab (Timecode: 08:09 – 08:50)

[7] https://www.admin.ch/opc/de/official-compilation/2016/2131.pdf

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