SRG Deutschschweiz Ombudsstelle

«Übernahme von EU-Recht»-Beitrag der «Tagesschau» beanstandet

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Mit Ihrem Brief vom 14. Juni 2018 beanstandeten Sie die «Tagesschau» (Fernsehen SRF) vom 30. Mai 2018 und dort den Beitrag «Übernahme von EU-Recht».[1] Ihre Eingabe entspricht den formalen Anforderungen an eine Beanstandung. Ich kann folglich darauf eintreten.

A. Sie begründeten Ihre Beanstandung wie folgt:

“Gerne weise ich Sie darauf hin, dass im ersten Beitrag der Tagesschau vom 30.05.2018 ein grober Fehler aufgetreten ist. Der Sprecher sagt im Beitrag, dass beim Bataclan-Anschlag <Menschen im Kugelhagel halbautomatischer Waffen> gestorben sind. Das ist falsch.

Gemäss ZDF-Recherchen[2] handelt es sich um Zastava[3]-Waffen, die in den 90er-Jahren für die jugoslawische Armee gebaut wurden und dann in den Kriegswirren aus Depots der Armee verschwanden und nach Frankreich geschmuggelt wurden. Somit handelt es sich nicht um zivile Halbautomaten, sondern um militärische Vollautomaten, welche durch die organisierte Kriminalität illegal nach Europa gelangt sind.

Ich bitte Sie, dies öffentlich zu korrigieren, da sonst die Bevölkerung anhand Ihres Berichtes so wie leider auch der gängigen Berichterstattung davon ausgehen müsste, dass legale zivile Halbautoamten ein Problem für die Sicherheit Europas wären. Tatsächlich sind es aber illegale Vollautoamten und Handgranaten[4], so wie die organisierte Kriminalität, welche ein Problem für die Sicherheit Europas darstellen. Dass das EU-Parlament, unser Bundesrat und das fedpol hier nicht objektiv die Wahrheit vertreten macht den Job der Presse, als 4. Macht im Staate, umso wichtiger!

Gerne bedanke ich mich bereits jetzt für eine gewissenhafte Analyse meiner Einwände, so wie eine entsprechende öffentliche Richtigstellung.”

B. Die zuständige Redaktion erhielt Ihre Beanstandung zur Stellungnahme. Für die «Tagesschau» antwortete Herr Franz Lustenberger:

«Mit Brief vom 14. Juni hat Herr X eine Beanstandung gegen den Beitrag über die Nationalratsdebatte zur Übernahme der neuen EU-Waffenrichtlinien eingereicht.

Fokus des Beitrages

Im beanstandeten Beitrag ging es nicht um eine Analyse der verschiedenen Waffen, welche bei verschiedenen Anschlägen in Europa im Jahre 2015 zum Einsatz gelangten. Die folgenschwersten Anschläge waren jene auf das Satire-Magazin Charlie Hebdo und das Musiklokal Bataclan in Paris.

Im Bericht ging es vielmehr um die Nationalratsdebatte zur Übernahme der neuen EU-Waffenrichtlinie im Rahmen des Schengen-Abkommens durch die Schweiz. Die EU hatte als Folge der verschiedenen Anschläge neue Richtlinien für die Schengen-Staaten erlassen.[5]

Die Schweiz hat als Mitglied des Schengen-Vertrages ihre Besonderheiten (Milizsystem in der Armee, ausserdienstliches Schiesswesen, Jagd, Traditionen) in den Entscheidungsprozess in Brüssel eingebracht. Das Resultat dieser Verhandlungen in Form eines Bundesbeschlusses hat der Bundesrat ans Parlament geschickt, über den der Nationalrat am 30. Mai debattierte.

Dabei kamen im Beitrag alle Seiten zu Wort: Der Bundesrat durch die zuständige Justizministerin Simonetta Sommaruga, die bürgerlichen Mitteparteien durch Nationalrat Nicolo Paganini (CVP/SG), die SVP als Gegnerin der neuen Richtlinie durch Nationalrat Werner Salzmann (zugleich Präsident des Berner Schiesssportverbandes BBSV), die Befürworter eines strengen Waffenrechts durch Balthasar Glättli (Grüne/ZH). Die neue EU-Waffenrichtlinien umfassen einen ganzen Katalog von neuen Bestimmungen, welche im erläuternden Bericht im Punkt 1.3 zusammengefasst und im Punkt 3 detailliert ausgeführt werden.

Beispiel Bataclan und andere Terroranschläge

Die Anpassungen der EU-Waffenrichtlinien sind zum einen vor dem Hintergrund der Terroranschläge in Paris, Brüssel und Kopenhagen im Jahre 2015 zu sehen, zum anderen berücksichtigen sie auch Reformanliegen, welche die Europäische Kommission schon früher formuliert hatte, um die Rückverfolgung von Feuerwaffen zu verbessern und deren missbräuchliche Verwendung verstärkt zu bekämpfen.

Die neue EU-Richtlinien sind also nicht nur eine ‘Lex Bataclan’, sondern sie sind die gesetzgeberische Antwort auf eine ganze Reihe von Anschlägen und neuerer Entwicklungen. Es ist journalistisch richtig, dass die Tagesschau einen Anschlag, nämlich den ‘spektakulärsten’, als Anknüpfungspunkt und Einstieg in den Beitrag über die Nationalratsdebatte auswählte.

Bei den Anschlägen in den europäischen Städten wurden von den Terroristen verschiedenste Waffen eingesetzt, vollautomatische Waffen, aber auch Halbautomaten, Pistolen oder Handgranaten. Auch bei den Anschlägen in Paris kamen vollautomatische und halbautomatische Waffen zum Einsatz. Im Beitrag gab es in Bezug auf das Musiklokal Bataclan eine Ungenauigkeit, in dem nur von halbautomatischen Waffen die Rede war, im Inneren des Bataclan aber vollautomatische Waffen verwendet wurden. Die Textpassage bezog sich jedoch auf die gesamten Anschläge in Paris, bei denen auch Halbautomaten eine Rolle spielten. Die Bilder vom Anschlag auf das Musiklokal Bataclan standen stellvertretend für eine ganze Reihe von Anschlägen, auf welche die EU mit der neuen Waffenrichtlinie reagiert hat.

Ob die von den Terroristen eingesetzten Waffen nun automatisch oder halbautomatisch waren, ist aber für die Änderung der EU-Richtline, respektive für deren Übernahme durch die Schweiz und die Ratsdebatte nicht von Bedeutung. Die Debatte drehte sich um grundsätzliche Fragen und konkret um die Ausnahmen, welche die Schweiz für sich aushandelte. Es ging um den erwähnten Bundesbeschluss und damit um die Übernahme der neuen Bestimmungen durch die Schweiz.

Die Tagesschau hat nicht den Eindruck erweckt, <legale, zivile Halbautomaten> seien ein Problem für die Sicherheit Europas. Jede Waffe, ob legal oder illegal erworben, ob halbautomatisch oder vollautomatisch, ob zivil gekauft oder durch kriminelle Organisationen in den Handel gebracht, ob aus privatem Besitz oder aus alten Militärbeständen, kann zum tödlichen Instrument werden, wenn diese Waffen von Terroristen benutzt werden.

Fazit

Die Tagesschau hat umfassend und ausgewogen über die Nationalratsdebatte zur Übernahme der neuen EU-Waffenrichtlinien im Rahmen des Schengen-Vertrages berichtet. Sie hat beim Einstiegs-Beispiel Bataclan die zum Einsatz gelangten Waffen unpräzis bezeichnet. Die Bilder aus dem Bataclan stehen aber stellvertretend für eine ganze Reihe von Anschlägen mit den verschiedensten Waffen, auf welche die EU mit der Anpassung der Waffenrichtlinien reagiert hat.

Der Zuschauer konnte sich – und einzig und allein darum ging es im Beitrag – eine unabhängige Meinung zur Debatte im Nationalrat machen. Die Argumente aller Seiten kamen im Beitrag vor.

Ich bitte Sie, die Beanstandung in diesem Sinne zu beantworten.»

C. Damit komme ich zu meiner eigenen Bewertung der Sendung. Herr Lustenberger hat Recht und Sie haben Recht: Es ging in dem Beitrag nicht um die Untersuchung, was für Waffen bei verschiedenen Terroranschlägen und insbesondere bei jenen vom 13. November 2015 in Paris (Stade de France, Bataclan) verwendet worden waren, sondern um die Nationalratsdebatte zur neuen EU-Richtlinie über das Waffenrecht, die die Schweiz mit starken Einschränkungen zugunsten der Armee, der Schützen und der Jäger übernimmt. Gleichzeitig war der Beitrag in Bezug auf die von Terroristen verwendeten Waffen ungenau. Mehrfach wurde im Zusammenhang mit den Anschlägen in Paris nur von Halbautomaten gesprochen.

Da die Nationalratsdebatte im Zentrum des Beitrags stand und nicht die Anschläge von Paris im Fokus waren, handelte es sich bei der (fehlenden) Differenzierung der Waffentypen um einen Nebenpunkt, der nicht geeignet war, die freie Meinungsbildung des Publikums zu beeinträchtigen. Das Sachgerechtigkeitsgebot ist dadurch nicht verletzt. Gleichwohl ergeht die Mahnung an die Journalistinnen und Journalisten, auch in den Details genau zu sein. Das Ziel muss sein, dass sämtliche Fakten stimmen. Dass diese Mahnung ergeht, ist Ihr Verdienst. Aber Ihre Beanstandung kann ich nicht unterstützen.

D. Diese Stellungnahme ist mein Schlussbericht gemäß Art. 93 Abs. 3 des Radio- und Fernsehgesetzes. Über die Möglichkeit einer Beschwerde an die Unabhängige Beschwerdeinstanz für Radio- und Fernsehen (UBI) orientiert die beigelegte Rechtsbelehrung. Für Nachfragen stehe ich gerne zur Verfügung.


[1] https://www.srf.ch/play/tv/tagesschau/video/tagesschau-vom-30-05-2018-1930?id=51952288-4e53-4ecb-8618-446dde6086b8

[2] https ://www.zdf.de/dokumentation/zdfzoom/zdfzoom-kalaschnikows-fuer-terroristen-100.html

[3] https :// de.w i kipedia . org / wik i/ Zastava M70

[4] https: //www.nytimes .com/2018/03/03/world/europe /sweden-crime-immigration-hand-grenades .html

[5] https://www.ejpd.admin.ch/dam/data/ejpd/aktuell/news/2017/2017-09-290/vn-ber-d.pd

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