Zwei Personen sitzen auf dem Zürcher Sechseläutenplatz
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Die schwindende Schweizer Dialektvielfalt

Dramatisch titelte die Sonntagszeitung am 14. Juli 2019: «Züritüütsch verdrängt die anderen Dialekte». Der Aufschrei in den sozialen Medien war gross. Aber was ist dran an dieser Prognose? Eine Einschätzung von SRF-Mundart-Experte André Perler.

2060 werden die Aargauer und Thurgauerinnen wie die Zürcher «Bütschgi» sagen für das Kerngehäuse des Apfels – und nicht mehr «Güürbsi» oder «Bitzgi». Das prognostizieren die Sprachwissenschaftler Adrian Leemann und Claudia Bucheli Berger in der jüngsten Ausgabe der Sonntagszeitung. «Züritüütsch verdrängt die anderen Dialekte», titelte sie. Sie berufen sich dabei auf einen Vergleich von heutigen Sprachdaten mit solchen aus den 1940er- und 1950er-Jahren. Diese Daten extrapolieren sie in die Zukunft – und erhalten so ihre Anhaltspunkte für das Jahr 2060.

Weniger Dialektvielfalt

Dass die Dialektvielfalt abnimmt, ist keine Überraschung. Diese Tendenz zeichnet sich schon seit Jahrzehnten ab. Viele Ausdrücke und Dialektmerkmale verschwinden, andere breiten sich über grosse Gebiete aus. So ist es eben auch mit dem «Bütschgi», welches tatsächlich «Güürbsi», «Bitzgi» und andere Ausdrücke rund um den Kanton Zürich verdrängt. Diese Abnahme der Dialektvielfalt hat mit unserer Mobilität zu tun. Während viele Deutschschweizer vor 80 Jahren kaum je aus dem Dorf hinauskamen, pendeln viele Leute heute in entfernte Städte oder ziehen ans andere Ende der Schweiz. Dadurch vermischen sich die Dialekte. Man muss sich verständigen und gibt lokale Eigenheiten daher tendenziell auf.

Sprache der Städte

Es entsteht aber kein «Bahnhofbuffet-Olten-Dialekt», kein Einheitsschweizerdeutsch, wie lange befürchtet wurde. Vielmehr bilden sich sogenannte Regiolekte heraus: Dialekte, die in einer grösseren Region einigermassen einheitlich sind. Zentren solcher Regiolekte sind etwa Zürich, Bern, Basel, Luzern, St.Gallen oder Chur. Wie Leemann und Bucheli Berger herausgefunden haben, ist es der Dialekt aus dem Wirtschaftszentrum der jeweiligen Region, der sich ausdehnt. Das kommt nicht von ungefähr: Viele Menschen aus dem Umland pendeln oder zügeln ins Regionalzentrum – und passen sich dort an den Dialekt der Mehrheit an.

Bloss keine Panik

Das Phänomen der Regiolektisierung ist schon seit Langem bekannt. Dass es vermutlich in den nächsten Jahrzehnten zunehmen wird, ist anzunehmen. Insofern bringt der Bericht der Sonntagszeitung nichts Neues. In seiner Dramatik muss dem Artikel klar widersprochen werden. Dass Zürichdeutsch «die anderen Dialekte verdrängt», stimmt so nicht. Es sind lediglich einige Dialektmerkmale der Regiolekt-Zentren, die sich auf das jeweilige Umland ausbreiten. Einen Thurgauer und eine Westaargauerin wird man aber auch 2060 noch von einem Zürcher unterscheiden können.


Mehr zu diesem Thema hören Sie im Radiobeitrag «Rückt das Bütschgi dem Grüübschi auf die Pelle?» von SRF Kultur.


Text: SRF/André Perler

Bild: SRF

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