Anna Mühlemann
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«Nach dem Krieg erfuhren wir die Wahrheit»

Während des Zweiten Weltkriegs wurden Medien in der Schweiz zensuriert. Anna Mühlemann hatte andere Quellen. Das Kriegsende feierte die damals 24-Jährige auf einer Zürcher Strasse tanzend.

Anna Mühlemann erinnert sich gut an den 8. Mai 1945: «Ich verbrachte den Tag an der Birmensdorferstrasse in Zürich, wo ich arbeitete. Als bekannt gegeben wurde, dass die deutsche Wehrmacht bedingungslos kapituliert hatte, gingen alle auf die Strasse, jodelten und jubelten. Alle waren draussen.» Doch an diesem Tag sei der Krieg nicht einfach zu Ende gewesen: «Es ging danach nur ganz langsam vorwärts. Als ich 1946 heiratete, brauchten wir immer noch Mahlzeitenmarken – ein ganzes Jahr nach Kriegsende.»

Anna Mühlemann wird am 1. August dieses Jahres 99 Jahre alt. Sie lebt in einer hellen Drei-Zimmer-Wohnung in Zollikon ZH. Den Besuch empfängt sie kurz vor Ausbruch des Coronavirus zuhause. Bis vor vier Jahren habe sie noch gearbeitet, erzählt sie heiter, und ergänzt nach einer Bemerkung zu ihrer bemerkenswerten Präsenz und Gesundheit: «Ich habe eben immer gerne gearbeitet!»

In der Schule war sie gut, als junge Frau wollte sie «büezgen». So heuerte sie als 17-Jährige, direkt ab Schule, in ihrer Gemeinde Wangs SG bei einer Schneiderin an, im Jahr darauf wechselte sie zu einem Kürschner in Altdorf UR. Es war 1939 – das Jahr, in dem der Krieg ausbrach. Sie erinnert sich, wie sie bei einem Spaziergang in der Umgebung von Altdorf plötzlich einen Güterzug aus einem Berg fahren sah. Im Nachhinein erfuhr sie, dass es sich um Waggons gefüllt mit im Berg gelagerter Munition handelte – die wurde nun zur Grenze gebracht. Und nach und nach sei das Leben komplizierter geworden.

Die junge, damals noch alleinstehende Frau bewarb sich um eine Stelle in einem jüdischen Geschäft unweit des Zürcher Paradeplatzes – und bekam sie. «Nun war ich dem Krieg viel näher als zuvor. Und näher als die meisten in der Schweiz. Mein Chef bot mehreren geflüchteten Freunden aus Wien Asyl. Der Lehrling im Geschäft war ebenfalls ein Geflüchteter aus Wien – beim Mittagessen wurde seine Familie überrascht, sie liessen alles stehen und liegen. Übrigens schaute mein Chef Erich Siebenschein auch uns Angestellten immer gut. Ich habe sehr gerne für ihn gearbeitet.»

In einem jüdischen Geschäft zu arbeiten, bedeutete auch, andere Informationen zu haben als die meisten Menschen in der Schweiz. Anna Mühlemann erinnert sich: «Ich hörte zwar manchmal in der Nacht Radio, im abgedunkelten Zimmer, aber die Nachrichten waren zensuriert. Auch die Schweizer Filmwochenschau, die in den Kinos vor dem Filmprogramm gezeigt wurde. Und die Zeitungen. Alle Medien waren während des Zweiten Weltkriegs kontrolliert. Die Medien konnten nicht berichten, was sie wollten. Wir wurden angelogen.»

Im Geschäft erfuhr Anna Mühlemann von der Judenverfolgung, den Konzentrationslagern, von etlichen Schicksalen. «Angst davor, dass Hitler auch in die Schweiz einfallen könnte, hatten alle», erinnert sie sich, «für die Juden war die Bedrohung aber noch eine andere.» Wie sie mit diesem Wissen und ihrer Angst umging – das weiss sie rückblickend nicht mehr. Aber an die Bombenabwürfe in Zürich am Vorabend der Weihnacht 1940 erinnert sie sich: «Ich wohnte beim Escher-Wyss-Platz. An dem Abend war ich mit einer Kollegin im Kino, um die Wochenschau und einen Film zu sehen. Wir sassen in der ersten Reihe, auf den günstigen Plätzen. Um 21 Uhr hiess es: ‹Alle raus!› Draussen war es dunkel und still. Es fuhren keine Trams.»

«Ich sagte zu meiner Kollegin: ‹Jä nu, dann gehen wir eben zu Fuss zum Escher-Wyss-Platz.›»

Anna Mühlemann (98)

«Wir wussten nicht, was geschehen war. Als ich im Haus meiner Schlummerleute ankam, war es dort kalt. Die Scheiben waren zerborsten. Die Familie sass in Wolldecken um den Esstisch. Sie berichteten mir: ‹Es ging eine Bombe runter, drüben bei der Maag-Fabrik.› Später in der Nacht, um zwei Uhr, detonierte mittels Zeitzünder eine weitere Bombe, das gab einen riesigen ‹Tätsch›. Das Wipkinger Viadukt wurde dabei beschädigt und es gab einen Toten und mehrere Verletzte.»

75 Jahre sind seit Kriegsende vergangen. Die Mutter einer Tochter und eines Sohnes und dreifache Grossmutter ist eine von wenigen, die den Krieg als erwachsene Person erlebt haben und noch immer vital erzählen können, sich an viele Details erinnernd. Auch ihr Interesse an den aktuellen politischen Themen und den gesellschaftlichen Entwicklungen hat sie sich bewahrt. Die heutige Zeit erinnere sie übrigens ein wenig an jene kurz vor Kriegsbeginn, erwähnt die ansonsten heitere, fröhliche Frau ernst: «Da brannte es auch an allen Ecken und Enden.» Pause. Dann: «Nach Kriegsende, als die Zensur aufgehoben war, erfuhren endlich alle von diesen schrecklichen Verbrechen. Was Hitler angerichtet hatte. Man konnte und wollte sich das ja gar nicht vorstellen. Dass das möglich war. Heute erfährt man alles schneller, auch das Schreckliche. Was heute im Mittelmeer passiert: jeder Ertrunkene ein Mensch.»


«1945»: SRF feiert 75 Jahre Kriegsende mit Themenschwerpunkt

Im Mai und im Herbst 2020 thematisiert SRF auf verschiedenen Vektoren das Ende des Zweiten Weltkriegs.

Unter anderem spricht auch die hier porträtierte Anna Mühlemann in der Sendung «Doppelpunkt» über ihre Erlebnisse als junge Frau in den Jahren nach dem Krieg. Seit dem 4. Mai werden sämtliche Sendungsbeiträge des Schwerpunkts «1945» gebündelt. Online-Artikel, Webvideos, Audios und ältere Online-Inhalte zum Themengebiet Zweiter Weltkrieg sind ab dann verfügbar auf: www.srf.ch/1945


Text: Esther Banz

Bild: Reto Schlatter

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