Bild von SRF-Korrespondent Charles Liebherr in Paris: «Wir müssen Geschehnisse einschätzen und relativieren.»
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SRF-Korrespondent Charles Liebherr in Paris: «Wir müssen Geschehnisse einschätzen und relativieren.»

Ausnahmezustand in Frankreich: Nach den Anschlägen des IS sind die Korrespondenten vor Ort gefordert. Charles Liebherr berichtet als Radiojournalist für SRF aus Paris. «Man kann gar nicht mehr weit schauen, man funktioniert einfach», beschreibt er im Interview mit persoenlich.com seinen Kriseneinsatz. Zudem sagt er, wie er die Zuverlässigkeit seiner Informationen garantiert und inwiefern seine Arbeit diesmal anders ist als beim Attentat auf Charlie Hebdo Anfang Jahr.

persoenlich.com: Herr Liebherr, Sie arbeiten als Radiokorrespondent für SRF in Paris. Wie haben Sie am Freitagabend von den Terroranschlägen des IS erfahren?
Charles Liebherr: Ich habe mir auf dem iPad das Freundschaftsspiel Frankreich – Deutschland angeschaut. Etwa in der Mitte der zweiten Halbzeit sind dann auf dem Display verschiedene Pushmeldung, zum Beispiel von France Info, dem Informationssender des öffentlich-rechtlichen Radiosender hier in Frankreich, erschienen. Dann habe ich einen Blick auf verschiedene Newsdienste und Agenturen geworfen. Mein Anruf nach Bern in die Redaktion hat sich mit jenem des zuständigen Redaktors gekreuzt. Dann fing die Maschinerie an zu laufen.

War Ihnen die Dimension des Anschlags sofort bewusst?
Ich kenne die betroffenen Quartiere gut und weiss, was dort am Freitagabend los ist. Wenn man von mehreren Schiessereien und Explosionen im 11. Arrondissement hört, kann man sich schnell ein Bild machen. Es gab in Frankreich seit Charlie Hebdo mehrere Attentate, aber diese Anschläge zeigen neue Dimensionen bezüglich der Opferzahlen auf.

Was haben Sie am Telefon mit der Redaktion in Bern besprochen?
Wir haben angeschaut, was wir kurzfristig für die Mitternachtssendung umsetzen können, und was wir Samstagmorgen bringen. Dann habe ich mich kurz hingelegt und bin um vier Uhr ins Büro gefahren, um die Morgensendung vorzubereiten.

Sie sagen «die Maschinerie beginnt zu laufen.» Wie haben Sie die letzten Tage erlebt?
Nach einem solchen Anschlag kommt auf einen Korrespondenten erst einmal einfach sehr viel Arbeit zu. Anfangs war ich rund 20 Stunden täglich im Einsatz für die unterschiedlichen Sendungen am Morgen, Mittag und gegen Abend. Dann wurde ein Kollege von Bern nach Paris geschickt, um mich zu unterstützen. Man funktioniert in einem Halbstunden-Rhythmus und fragt sich stetig: Wie ist die Lage? Und was gibts zu tun für die nächste Sendung? Man kann gar nicht weit schauen, man funktioniert einfach.

Wie gelangen Sie an Ihre Informationen?
Die Untersuchungsbehörde informiert regelmässig an Pressekonferenzen über den aktuellen Stand. Ich halte mich hauptsächlich an offizielle Quellen, um lediglich gesicherte Informationen weiterzugeben. Twitter und Newsportale sehe ich, vor allem in der heissen Phase nach so einem Attentat, bloss als ergänzende Informationsquellen.

Welches Erlebnis der letzten Tage hat Sie besonders beeindruckt?
Bemerkenswert fand ich die schnelle Mobilisierung der Sicherheits- und Rettungskräfte. Auch die Spitäler haben rasch das nötige Personal aufgeboten. Beim Hôpital Européen Georges-Pompidou, welches in der Nähe von meinem Büro ist, standen die Menschen am Samstag Schlange, um Blut zu spenden. Das ist nur ein Beispiel dafür, wie die Menschen versucht haben zu helfen. Diese Solidaritätsbekundung war beeindruckend.

Wie muss man sich Ihre Zusammenarbeit mit den SRG-Kollegen in Paris vorstellen?
Ich sitze zusammen mit Radiokollegen von RTS in einem Büro. In einer solchen Ausnahmesituation arbeitet man noch stärker zusammen. Jeder weiss, wer mit wem und wo ein Quote einholt. Und es ist hilfreich, sich auszutauschen und Beobachtungen zu besprechen.

Sie sind fest in Paris stationiert, im Gegensatz zu Korrespondenten anderer Medienhäuser, die zum Beispiel von Madrid aus über Frankreich-Themen berichten. Welchen Vorteil haben Sie dadurch in der aktuellen Situation?
Ich berichte seit eineinhalb Jahren von Paris und konnte die wichtigen politischen, wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Dossiers dadurch über längere Zeit verfolgen. Nun kann ich auf dieses Wissen, auf die Arbeit, die ich hier bisher gemacht habe, zurückgreifen. Das gibt mir die Möglichkeit, die Ereignisse in einen Gesamtzusammenhang zu stellen. Das betrifft zum Beispiel Fragen wie: Was sind nach dem Anschlag auf die Redaktion von Charlie Hebdo für Gesetze beschlossen worden? Welche Positionen haben die verschiedenen Parteien hierzulande zu einem spezifischen Thema? So kann ich inhaltliche Kontinuität sicherstellen.

Wie nehmen Sie die Berichterstattung in der Schweiz über die Terroranschläge in Paris wahr?
Für die Analyse der Berichterstattung bleibt in solchen Tage keine Zeit. Da konsumiert man Medien sehr selektiv.

Dann ist Ihnen kein Schweizer Medium positiv aufgefallen?
Sagen wir es so: Bei der Berichterstattung hat sich exemplarisch gezeigt, wie wichtig es für ein Medium ist, ein dichtes Korrespondentennetz zu haben. Gerade am aktuellen Beispiel, wo sich der Fokus rasch auch auf Belgien, Deutschland und Syrien verlagert hat, konnten Medien mit festen Korrespondenten vor Ort differenzierter berichten. Nebst der SRG kann sich das in der Schweiz nur noch die NZZ leisten.

Die Digitalisierung hat den globalen Kommunikationsfluss stark beschleunigt. Inwiefern hat das Ihre Arbeit verändert?
Korrespondenten sind nicht mehr die Gatekeeper, die Informationen liefern, sondern sie müssen das Geschehene einschätzen und oftmals auch relativieren. Als Radiojournalist geht es darum, an einem gewissen Punkt am Tag zu sagen was passiert ist, was es für die Menschen hier bedeutet und welche Folgen es hat. Es geht darum, eine Art Brücke zu schlagen – in dem Fall zwischen Paris und der Schweiz.

Nach dem Anschlag auf Charlie Hebdo ist es für Sie die zweite Krisenberichterstattung als Korrespondent in Paris. Was ist anders?
Weil diesmal die internationale Vernetzung des Terrorismus viel offensichtlicher ist, verteilt sich die Arbeit etwas stärker als im Januar, als primär Paris im Fokus des Interesses lag. Die Angriffe an sich unterscheiden sich stark. Bei Charlie Hebdo wurde gezielt ein symbolisches Ziel und damit die Meinungsfreiheit angegriffen. Am Freitagabend hingegen wurden wahllos Menschen im öffentlichen Raum attackiert, so dass sich nun auch jeder angegriffen fühlt. Für mich persönlich heisst das, nicht ich als Journalist wurde angegriffen, sondern ich als Mensch. Dieser Unterschied hat in der politischen Wahrnehmung rasch eine Rolle gespielt.

Inwiefern konnten Sie die Erfahrungen, die Sie als Journalist nach Charlie Hebdo gemacht haben, wieder anwenden?
Ich bleibe in solchen Situationen ruhig und kann gut aufs Wesentliche fokussieren. Rein arbeitstechnisch betrachtet, habe ich eine gewisse Routine gespürt. Es ist zwar tragisch zu sagen, aber wenn man eine solche Krisensituation zum zweiten Mal erlebt, profitiert man von den Erfahrungen.

Interview: persoenlich.com /Michèle Widmer
Bild: Charles Liebherr, bei seiner Arbeit in Paris (© Charles Liebherr)

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